Die Mercedes-Verwandlung am Sonntag in Singapur
Der Startcrash von Singapur hat uns das Duell Mercedes gegen Ferrari gestohlen. Trotzdem war Mercedes im Rennen klar besser als im Training. Und keiner im Team hatte eine stichhaltige Erklärung dafür.
Was wäre wenn? Wenn das Rennen von Singapur ganz normal abgelaufen wäre, ohne den ersten Regen in 10 Jahren Nachtrennen an der Marina Bay? Wenn die beiden Ferrari nicht beim Start mit Max Verstappens Red Bull kollidiert wären? Hätte dann auch Lewis Hamilton gewinnen können? Wir wissen es nicht. Sicher ist nur, dass Hamilton das Rennen ohne die Ferrari und ohne Verstappen von der Spitze weg kontrolliert hat.
Und dass die beiden Mercedes am Sonntag wie verwandelt waren. Der von Lewis Hamilton ab der ersten Runde. Der von Valtteri Bottas, nachdem der Finne auf Ultrasoft-Reifen gewechselt hatte. Hamilton und Bottas fuhren, als hätte es das Trainingsergebnis mit den Startplätzen 5 und 6 nie gegeben. Niki Lauda zuckte mit den Schultern: „Das ist die große Frage, die unsere Herren Ingenieure herausfinden müssen.“ Doch die befinden sich noch auf Spurensuche.
Getriebeprobleme keine Entschuldigung für Ricciardo
Teamchef Toto Wolff versuchte eine Antwort zu geben: „Vielleicht war es die grüne Strecke, die uns entgegenkam. Vielleicht die niedrigeren Streckentemperaturen, die verhindert haben, dass unsere Hinterreifen überhitzen. Es gibt im Moment leider noch keine wissenschaftliche Erklärung dafür.“
Auf Strecken wie Monte Carlo, Budapest und Singapur ist der Mercedes W08 eine Wundertüte. Wolff: „Die Top Ten des Trainings sind die gleichen wie in Ungarn. Nur die Red Bull wurden besser.“ So weit die Gemeinsamkeiten. Fahrer und Ingenieure stellten in den 90 Grad-Ecken mal wieder fest, dass der Mercedes aus zwei Teilen besteht. Einem Vorderwagen und einem Hinterwagen.
Man könne zwischen Unter- und Übersteuern wählen hieß es, aber leider gab es nichts dazwischen. Entweder passte das Auto am Kurveneingang und nicht mehr am Ausgang, oder es verhielt sich umgekehrt. „Es war schwierig, eine Balance zu finden“, jammerten die Fahrer. Die Ingenieure fügten hinzu. „Die Ausschläge sind je nach Kurvengeschwindigkeit mal höher, mal geringer.“ Das ging so weit, dass man im Sinne einer besseren Fahrzeugbalance absichtlich das eine Ende des Autos schlechter machte, um es dem anderen anzupassen. Mit dem Ergebnis, dass die Rundenzeiten langsamer werden. Aber so finden wenigstens die Fahrer ein bisschen Vertrauen.
Am Sonntag war das alles wie weggewischt. Auf Intermediates, auf Ultrasoft-Reifen. Hamilton hatte Daniel Ricciardo zu jeder Phase des Rennens im Griff. Er hätte den Australier auch dann kontrolliert, wenn der beim Hochschalten kein Problem bekommen hätte. „Es ist schon in der zweiten Runde passiert, hat uns aber höchstens zwei Zehntel pro Runde gekostet. Nicht genug, um den Abstand zu Hamilton zu erklären“, bedauerte Chefdesigner Rob Marshall. Und wie erklärt er sich die Diskrepanz zwischen Training und Rennen? „Am Freitag fahren wir ungefähr mit den gleichen Waffen. Ab Samstag drehen Mercedes und Ferrari an der Power. Sie können auch im Rennen beständig in einem höheren Modus fahren als wir.“
Die bestmögliche Schadensbegrenzung
Eine Hochrechnung, wo Mercedes im Vergleich zu Ferrari gestanden wäre, ist müßig. Ohne den Startcrash hätte Hamilton in der ersten Kurve mindestens drei Autos vor der Nase gehabt. Mit den für Singapur so typischen Begleiterscheinungen wie steigenden Motor- und Bremstemperaturen im Verkehr. Die nasse Fahrbahn zu Beginn hätte Hamilton allerdings die Chance gegeben, den einen oder anderen Platz gutzumachen. Keiner versteht es so gut wie er, die relativ harten Intermediates auf Temperatur zu bringen. Er war auf gebrauchten Mischreifen schneller als Ricciardo auf neuen.
Bottas fühlte sich auf den Intermediates so wenig wohl wie im Training. Der WM-Dritte wachte erst auf den Slicks auf. Weil das Übersteuern plötzlich verschwunden war. „Das Auto war besser als erwartet. Ich konnte sogar auf Daniel Zeit gutmachen.“
Mercedes ging mit dem Ziel der Schadensbegrenzung in den GP Singapur und kam mit dem Ausbau der WM-Führung wieder heraus. Toto Wolff betrachtete den Lauf der Dinge als Geschenk, warnte aber gleichzeitig, den siebten Saisonsieg von Hamilton als Vorentscheidung zu sehen: „Singapur hat uns gezeigt, wie schnell sich die Dinge drehen können. Manchmal innerhalb von 24 Stunden. Ich weiß genau, wie sich Ferrari jetzt fühlt. Wir hatten das gleiche 2016 in Barcelona, als unsere beiden Autos in der ersten Runde zusammengestoßen waren.“