„Das ganze Team will Vettel“
Racing Point hat Platz drei in der WM-Wertung zurückerobert. Wir haben uns mit Technikchef Andy Green über den Kampf um die Bronzemedaille unterhalten, über die Stärken und Schwächen der einzelnen Autos und über das, was er sich von Sebastian Vettel erwartet.
Es ist ein enges Rennen um Platz drei in der Konstrukteurs-WM: Wo liegen die Stärken und Schwächen von Renault, McLaren und Racing Point?
Green: Es gibt kein klares Bild, keine eindeutigen Stärken und Schwächen. Das Ergebnis ist stark abhängig von der Strecke. Unser Auto ist gut in schnellen Kurven, aber die anderen haben aufgeholt. Dafür haben wir zum GP Russland einige mechanische Änderungen an der Hinterachse gebracht, die uns in den langsamen Kurven geholfen haben. Die neue Hinterradaufhängung gibt uns mehr Freiheit beim Setup, um die Traktion aus langsamen Kurven zu verbessern und einfacher die Balance zwischen langsamen und schnellen Kurven zu finden. In Sektor 3 in Sotschi waren wir das zweitschnellste Auto hinter Mercedes. Jetzt müssen wir uns auf die mittelschnellen Kurven konzentrieren. Da haben wir relativ zu den Gegnern noch Aufholbedarf.
Racing Point hat seine Upgrades bereits ausgespielt. Renault und McLaren könnten noch Pfeile im Köcher haben. Beunruhigt Sie das?
Green: Wir haben noch genug Spielraum in der Fahrzeugabstimmung, um mehr aus dem Auto herauszuholen. Wenn die anderen was Neues bringen, dann ist es eben so. Ich glaube, wir werden speziell am Sonntag weiter wettbewerbsfähig sein. Unser Auto geht schonend mit seinen Reifen um. Wenn die Strecke das Überholen erlaubt, sollten wir in der Lage sein, um Platz drei zu kämpfen.
Gibt es noch andere Faktoren?
Green: Wir haben uns mit den Fahrerwechseln keinen Gefallen getan. Am Nürburgring zum Beispiel hatten wir faktisch nur ein Auto und damit nur 50 Prozent der Daten. Sergio hat uns erzählt, dass er das halbe Rennen gebraucht hat, bis er die Ideallinie fand. Dann wurden seine Rundenzeiten schlagartig besser. Für Nico war es eine unglaublich schwierige Aufgabe, kalt in dieses Auto zu springen und gleich die Qualifikation zu fahren. Das Ziel bestand lediglich darin, sich für das Rennen zu qualifizieren. Er hat das mit Leichtigkeit getan. Seine Steigerung war unglaublich. Noch ein Versuch, und er wäre sogar ins Q2 gekommen. Natürlich war er nach der langen Rennpause nicht so fit, wie er es bei einem normalen Rennbetrieb wäre. Er hat schon nach drei Runden gespürt, dass ihm der Kopf zur Seite fällt. Die zwei Safety Car-Phasen haben ihm zum Glück eine Atempause verschafft. Dass er dann trotzdem von ganz hinten auf Platz acht fährt, war einerseits eine tolle Leistung, zeigt aber auch, dass unser Auto nicht so schlecht sein kann. Renault hat mit Ricciardo natürlich eine Trumpfkarte in der Hand. Der holt immer wirklich alles aus diesem Auto heraus.
Renault, McLaren und Racing Point sind besser geworden, aber diesen Autos fehlt immer noch eine Sekunde auf den Mercedes. Wo gewinnt der diese Zeit?
Green: Überall. In jedem kleinen Detail. Es gibt den Matchwinner nicht. Der Teufel liegt im Detail. Es ist eine Anhäufung von vielen kleinen Vorteilen, nicht ein großer Wurf. Sie können mit dem Finger nicht auf eine Komponente wie zum Beispiel DAS zeigen. Das ist ein Vorteil unter bestimmten Umständen. Dieses Auto ist absolut unglaublich. Wir sehen, wo sie besser sind. Gib uns ein Jahr extra mit diesen Regeln und wir sind an dem Mercedes von 2020 dran. Aber dann sind sie schon wieder ein Jahr weiter. Vielleicht finden sie dann nur noch eine halbe Sekunde. Wenn die Regeln immer gleich blieben, würden wir sie nach unendlich vielen Jahren einholen.
Wem haben die neuen Motor-Regeln geholfen?
Green: Uns kommt diese Regel entgegen. Wir hatten immer Probleme mit diesem Quali-Modus, der zwar auf den meisten Strecken etwas Rundenzeit gebracht, aber den Motor auch massiv geschädigt hat. Wir haben dann im Rennen dafür bezahlt. Zwei Drittel des Rennens sind wir im Schongang gefahren. Jetzt verzichten wir auf diesen kleinen Vorteil am Samstag und gewinnen dafür richtig Power über das gesamte Rennen, weil wir von Anfang bis Ende in einem höheren Modus fahren können als zuvor. Unser Speed am Sonntagnachmittag ist ganz klar besser geworden.
Was erwarten Sie nächstes Jahr von Sebastian Vettel? Er geht bei Ferrari ja im Moment durch schwere Zeiten.
Green: Wir freuen uns alle auf ihn. Jeder weiß, was für ein guter Rennfahrer er ist. Keiner verlernt, wie man ein Auto schnell fährt. Du musst nur das richtige Auto und die richtigen Leute um dich herum haben, um deinen Job zu erledigen. Da hat er offensichtlich gerade Probleme. Wir können ihm das bieten, was er braucht, um zu seiner alten Form zurückzukehren. Das ganze Team will ihn. Das wird er spüren. Wir wissen, dass er uns genauso viel bringen kann, wie wir ihm. Jeder im Team freut sich schon auf Januar, bis wir endlich mit ihm arbeiten können.
Sie glauben also, dass seine Probleme im Moment eher in der Psyche als im Auto liegen, das nicht zu seinem Fahrstil passt?
Green: Ich würde sagen, es ist eine Kombination von beidem. Welchen Prozentsatz das eine und das andere hat, ist schwer zu beurteilen. Bei uns wird er die Leute und die Werkzeuge bekommen, um auf das Niveau zurückzukehren, das wir von ihm kennen und erwarten. Und er wird uns unheimlich viel helfen. Wenn er nur die Tür zur Fabrik aufmacht, wird das die Motivation jedes einzelnen Mitarbeiters steigern. Wenn ein mehrfacher Weltmeister in eines unserer Autos einsteigt, dann ist das auch eine Wertschätzung der Leute, die hier arbeiten. Wir haben uns das verdient. Vor 18 Monaten standen wir vor dem Bankrott. Dieses Team hätte um ein Haar gar nicht mehr existiert. Und jetzt will ein Weltmeister für uns fahren. Bei uns kann er seinen zweiten Frühling erleben.
Ist es ein Nachteil, dass es 2021 nur wenige Testtage geben wird?
Green: Sebastian werden ein paar Tage im Simulator reichen, um einen guten Eindruck davon zu bekommen, was ihn erwartet und wo die Reise mit uns hingeht. Und dann ist immer noch Zeit uns zu sagen, was er von diesem Auto will, und wo wir noch Zeit finden können oder müssen. Wir können unsere Arbeit an seine Bedürfnisse anpassen. Das macht es so spannend. Wir hatten schon lange keinen Fahrerwechsel mehr. Und sicher keinen in dieser Größenordnung. Perez ist ja schon ewig bei uns. Darauf baut unsere ganze Erfahrung auf. Mit Vettel wird eine ganz andere Art von Erfahrung und Ideen kommen, wie wir unser Auto entwickeln und vorbereiten müssen.