Vom Heilsbringer zum Sorgenfall
Sebastian Vettel hätte sich sein letztes Jahr bei Ferrari anders vorgestellt. Der Ex-Weltmeister stand auf Kriegsfuß mit seinem Auto. Und er traf auf den schnellsten Teamkollegen, den er je hatte.
Die Formel 1 kann voller Rätsel sein. 2017 und 2018 fuhr Sebastian Vettel gegen die Übermacht von Mercedes um den WM-Titel mit, im letzten Jahr immerhin noch um Siege. In seiner sechsten und letzten Ferrari-Saison dagegen zählten WM-Punkte wie ein Sieg. Nur drei Mal schaffte er es unter die besten zehn der Startaufstellung. Nur sieben Mal in die Punkteränge. Nur ein Mal auf das Podium. Am Ende stand Platz 13 der WM-Tabelle. Keine Führungskilometer, keine schnellste Runde. Der durchschnittliche Zeitrückstand auf Stallrivale Charles Leclerc betrug im Training zweieinhalb Zehntel. Im Rennen lag Vettel im Schnitt um 11,8 Sekunden zurück.
Der 33-jährige Deutsche hat in seiner Karriere schon gegen Teamkollegen verloren, aber noch nie so deutlich und noch nie so regelmäßig. Er selbst sprach in manchen Fällen wie Portimão von einem Klassenunterschied. Verschwörungstheorien, dass Ferrari den Fahrer, der das Team Ende des Jahres verlässt, schlechter bediene als den, der ihre Zukunft ist, wollte Vettel nie Nahrung geben: "Wir bekommen gleiches Material. Ich vertraue dem Team und den Leuten in der Garage. Am Ende verrät die Stoppuhr die Wahrheit. Das Gefühl für das Auto stimmte einfach nicht. Es fällt mir schwer, konstant zu fahren. Mal ging es für eine Runde, mal wieder nicht."
Ferraris Zukunft ist Leclerc
Ferraris Einsatz, das Auto dem Mann anzupassen, der das Team Ende des Jahres verlassen würde, hielt sich sicher in Grenzen. Ein logischer Vorgang. Der Mann der Zukunft in diesem Team ist Charles Leclerc. Solange der damit zurecht kam, reichte es. Jede Entwicklung am Fahrzeug musste dem neuen Messias passen, nicht mehr dem alten. Vettel gab im Rückblick aber auch ehrlich zu: "Charles ist der schnellste Teamkollege, den ich je hatte und ein Mann der Zukunft. Ich hoffe, Ferrari kann ihm in Zukunft das Auto bauen, das er verdient."
Selbst wenn zwei Motoren um zehn PS streuten und Leclerc den besseren davon bekam, erklärte das aber nicht Rückstände von einer halben Sekunde und mehr. Weil der Unterschied auch in den Kurven lag. Vettel selbst suchte fieberhaft nach den Ursachen der verlorenen Zeit; einem Rätsel, das sich schon 2019 zu Saisonmitte einmal kurz angedeutet hatte. Die beiden Ferrari-Piloten haben unterschiedliche Ansprüche an ein Rennauto. "Ich fühle mich wohl in dem Auto. Die jüngsten Entwicklungsschritte helfen mir und meinem Fahrstil., lobte Leclerc das Aero-Paket, das ab dem GP Russland das Fahrverhalten deutlich beruhigte.
Der Mann im Ferrari mit der Nummer 5 hört sich ganz anders an: "Ich spüre offensichtlich nicht das Gleiche wie Charles. Er scheint ein anderes Gefühl für den Grip des Autos zu haben als ich, und deshalb fahre ich auch nicht so schnell wie er." Vielleicht lag es auch daran, dass sich die beiden Ferrari-Fahrer in unterschiedlichen Stadien ihrer Karriere befanden. "Seine Zielsetzung war eine andere", vergleicht Vettel. "Er hat auf das nächste Rennen geschaut, ich auf den nächsten Monat, das nächste Jahr."
Ferrari kopiert Red Bull./strong>
Zuerst stand das Auto selbst im Verdacht. Ferrari hat in den letzten Jahren Red Bull kopiert, das Fahrzeug hinten immer höher gestellt und versucht, den Unterboden mit absichtlich erzeugten Luftwirbeln vor schädlichen Turbulenzen abzudichten. Je größer die Anstellung, umso schwieriger die Aufgabe. Selbst Trendsetter Red Bull hat seine Mühe damit.
Die Ingenieure suchen Rundenzeit im ersten Teil der Kurve, zwischen Einlenken und Scheitelpunkt. Dafür muss das Auto an der Vorderachse zubeißen. Wer den Speed mit durch die Kurve nehmen will, braucht dazu aber auch ein stabiles Heck. Oder einen Fahrer, dessen Vertrauensschwelle in den Abtrieb auf der Hinterachse so hoch liegt, dass ihn der Ritt auf der Rasierklinge nicht stört.
Red Bull hatte da ein Eigentor geschossen, weil lange nur Max Verstappen so fahren kann. Der zweite Fahrer, egal ob Gasly oder Albon, fiel dramatisch ab. Erst nach dem letzten Aerodynamik-Paket fasste Alexander Albon Vertrauen in den RB16. Zu spät für ihn. Ferrari hat sein Auto in eine ähnliche Richtung entwickelt, weil Leclerc mit dem gleichen Gottvertrauen fährt wie Verstappen.
Der Unterschied ist, dass dem Ferrari im Vergleich zum Red Bull Gesamtabtrieb und Power fehlten. Das reduzierte die Korrekturmöglichkeiten. Erst das jüngste Aerodynamikpaket hat dem SF1000 beim Einschlagen der Räder und beim Rollen über die Längsachse etwas stabileren Anpressdruck geschenkt. Seitdem ging es auch bei Vettel leicht bergauf.
Vettel erklärt den Hintergrund: "Die Upgrades haben auf direktem Weg ein paar Punkte Abtrieb gebracht. Nichts Großes. Doch der Anpressdruck war danach robuster. Unser Schwachpunkt war ja, dass der Abtrieb in Kurven stark geschwankt hat. Das wurde damit adressiert. Zum Schluss haben wir unser Paket optimiert, das Setup öfter getroffen und weniger rumexperimentiert."
Kein Vertrauen ins Heck./strong>
Sebastian Vettel zählte ursprünglich auch einmal zu den Fahrern, die ein kopflastiges Auto bevorzugen. So ist er bei Red Bull groß geworden. "Normalerweise versuche ich, das Auto so schnell wie möglich zu drehen, damit ich im zweiten Teil der Kurve richtig attackieren kann. Dazu fehlte mir in weiten Teilen aber das Vertrauen ins Heck."
Der Unterschied von damals zu heute ist, dass die Regeln zu Vettels Glanzzeit Hilfsmittel erlaubten, die das Heck auf der Straße festgenagelt haben: den Doppeldiffusor, den angeblasenen Diffusor. Die Gewichtsverteilung war noch frei wählbar, der Hinterreifen besser als der Vorderreifen. 2014 verschwanden die Abtriebshilfen. Und trotzdem stellten die Ingenieure ihre Autos immer noch stärker an, in der Hoffnung, dadurch den Gesamtabtrieb zu erhöhen. Ferrari ritt zunächst auf der gutmütigen Schiene, änderte aber mit den breiteren Autos und Reifen ab 2017 sein Konzept und folgte dem Weg von Red Bull.
Pirelli legte auf Wunsch der Fahrer die Reifen immer mehr darauf aus, nicht zu überhitzen. In den Reifentemperaturen liegt der wahre Grund, warum Vettel am Samstag oft eklatant viel Zeit verliert. Er tat sich schwer, die Reifen vorne und hinten zuverlässig in ihr Arbeitsfenster zu bekommen. Leclerc schaffte es irgendwie, wahrscheinlich bedingt durch seinen Fahrstil. "Ich bin in den mittelschnellen Kurven feinfühliger und nicht so aggressiv wie er. Charles fährt über Probleme drüber und merkt es im ersten Moment nicht, sondern erst im Laufe des Wochenendes. Da tut er sich etwas leichter, in der ersten Runde aus dem Auto und den Reifen mehr rauszuholen", analysiert Vettel.
Die Defizite des 2020er-Autos führten zu weiteren Kompromissen, die Vettel nicht halfen. "Wir waren mit dem Heck so sehr auf Messers Schneide, dass wir vorne Grip abbauen mussten. Um vorne mehr draufzupacken, hätten wir hinten mehr Abtrieb gebraucht. Das hätte dann auch beim Einlenken geholfen", sagt Vettel.
Im Rennen besser als auf eine Runde
Die Bestandsaufnahme klingt logisch, bringt ihm aber nicht viel, solange ihm Leclerc um die Ohren fährt. "Dann muss ich mich eben anpassen", forderte Vettel von sich selbst. Der Rennspeed zeigte ihm, dass er das Rennfahren nicht verlernt hat. Im Imola fuhr er im Mittelteil des Rennens schneller als sein Herausforderer. Beim GP Türkei schnappte er Leclerc in der vorletzten Kurve das Podium weg. In Abu Dhabi konnte er sich trotz härterer Reifen in der ersten Rennhälfte vor dem Teamkollegen halten. Sein Fazit: "Ich habe mich meistens mit meinen schlechten Startplätzen selbst geschlagen. Dann bin ich da hinten drin gesteckt und konnte mein Tempo nicht fahren."
Und warum soll das im nächsten Jahr bei einem neuen Team alles anders werden? Weil Vettel der Tapetenwechsel guttun wird, auch wenn er von einem Topteam ins Mittelfeld wechselt. Bei Aston Martin ist er nicht mehr ein Auslaufmodell, sondern der Heilsbringer. Dort wird man auf seine Wünsche hören, weil man sich von Vettel den nächsten Schritt verspricht, raus aus der Anonymität eines Außenseiters. Dort bekommt er ein Auto, das vom Konzept her völlig anders ist – man könnte sagen: ein verkappter Mercedes.
Der Aston Martin könnte seinem Fahrstil besser passen. Technikdirektor Andy Green kann die Ankunft des vierfachen Weltmeisters schon nicht mehr erwarten: "Jeder weiß, was für ein guter Rennfahrer Sebastian ist. Keiner verlernt, wie man ein Auto schnell fährt. Du musst nur das richtige Auto und die richtigen Leute um dich herum haben, um deinen Job zu erledigen. Da hat er offensichtlich gerade Probleme. Wir können ihm das bieten, was er braucht, um auf das Niveau zurückzukehren, das wir von ihm kennen und erwarten."
Vettel wertet Aston Martin auf
Vettel, so der Technikchef, müsse nur die Fabriktüre aufstoßen, und schon werde das für die 460 Mitarbeiter ein Motivationsschub sein. "Wenn ein mehrfacher Weltmeister in eines unserer Autos einsteigt, dann ist das auch eine Wertschätzung für die Leute, die hier arbeiten. Vor 18 Monaten standen wir vor dem Bankrott. Es dürfte uns eigentlich gar nicht mehr geben. Und jetzt will einer wie Vettel für uns fahren. Mit ihm werden neue Erfahrungen und Ideen kommen, wie wir unser Auto entwickeln und vorbereiten sollen."
Vettel ließ sich Zeit mit seiner Entscheidung. Ihm war schnell klar, dass Aston Martin sein einziger Rettungsanker sein würde. Aber einfach nur zusagen, um im Geschäft zu bleiben, wollte er auch nicht. "Den Ausschlag gaben die Leute, die Perspektive, die Arbeitsweise und das, wofür diese Truppe steht. Sie hat aus wenig immer viel gemacht. Das Reglement läuft genau in diese Richtung: aus wenig viel machen. Ich bin gespannt, was die leisten können, wenn sie jetzt endlich mal die Mittel haben." Der 53-fache GP-Sieger hat das Vertrauen, dass es nächstes Jahr in neuen Farben wieder aufwärtsgeht, dass er in einem ersten Schritt beim ein oder anderen Rennen auf das Podium fahren kann.
Vettel wird die sechs Jahre bei Ferrari nicht vergessen, auch wenn die Mission nach seinen Worten gescheitert ist. "Ich werde die Jungs in der Garage und der Fabrik vermissen. Die letzte Saison erzählt nicht die Geschichte einer tollen Zeit, die wir zusammen hatten." Deshalb ist es ein Abschied ohne Bedauern. Und ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft: "Ich freue mich auf das, was jetzt kommt."