Hamilton-Poker geht nicht auf
Nach dem Rennen in Istanbul blieben noch einige Fragen offen: Wäre Hamilton ohne Stopp weiter vorne gelandet? Was lief alles bei Ferrari schief? Und warum entschied sich Sebastian Vettel für den Poker mit Slicks? In der Rennanalyse geben wir die Antworten.
Warum war Red Bull nicht siegfähig?
Nach den Mercedes-Strecken in Monza und Sotschi hatte sich Red Bull in Istanbul wieder gute Siegchancen ausgerechnet. Doch schon am Trainingsfreitag war klar, dass es für die Verstappen-Truppe nur noch um Schadensbegrenzung geht. Die Ingenieure wurden vom hohen Griplevel der Strecke auf dem falschen Fuß erwischt. Eine spezielle Hochdruckreinigung hatte den Bitumen aus der obersten Asphaltschicht gewaschen. Plötzlich gab der vormals so rutschige Belag richtig guten Halt. "Das war praktisch eine ganz andere Rennstrecke als im letzten Jahr", schüttelte Teamchef Christian Horner mit dem Kopf.
Auch Mercedes wurde überrascht, reagierte aber schneller auf die neuen Bedingungen. Bei Red Bull wurde das Setup erst zum Samstag komplett umgebaut. Die Ingenieure erhöhten leicht den Abtrieb. Der große Schritt aber kam von der Mechanik. Das Auto war am ersten Trainingstag zu weich abgestimmt, um das vermutete Gripdefizit abzufangen. Das wurde in einer Radikalkur über Nacht geändert.
Ganz zufrieden waren die Piloten im Qualifying aber immer noch nicht mit der Balance. Gegen die beiden Mercedes war kein Kraut gewachsen. Die Schwäche von Red Bull wurde auch im Vergleich mit dem Schwesterteam deutlich. Pierre Gasly war am Ende nur 0,13 Sekunden langsamer als Verstappen. "Wenn man den Unterschied der Fahrer rausrechnet, kann man sagen, dass der Alpha Tauri unter den besonderen Bedingungen auf dieser Strecke das schnellere Auto war", gab Sportchef Helmut Marko zu. "Sie haben einfach das Setup besser getroffen."
Horner verwies aber auch auf die Stärke des Gegners. Seine Ingenieure hatten in den GPS-Messungen eine Auffälligkeit entdeckt: "Mercedes ist für den Abtrieb, den sie fahren, extrem schnell auf den Geraden. Das beobachten wir jetzt seit Silverstone. Besonders beim Auto von Lewis war das hier zu erkennen. Er war bis zu 10 km/h schneller. Irgendwas ist da komisch." Auch beim nächsten Rennen erwartet Red Bull viel Gegenwehr vom WM-Rivalen: "Austin ist Lewis-Land. Aber dann kommen mit Mexiko und Brasilien zwei Strecken, die uns liegen sollten."
Hätte Hamilton durchfahren können?
Im letzten Jahr feierte Hamilton. itemprop="name" />Lewis Hamilton./span> in der Türkei seinen siebten Meistertitel. In dieser Saison musste der Brite vor den TV-Interviews erst einmal einen Zwischenstopp im Motorhome einlegen, um sein erhitztes Gemüt etwas abzukühlen. Wie schon in Sotschi hatte er den ersten Befehl seiner Strategen zum Boxenstopp ignoriert. In Russland ging es gerade noch gut, weil der Weltmeister eine Runde später reagierte. Beim Grand Prix der Türkei hat es einen möglichen dritten Platz gekostet, weil er erst neun Runden nach dem ersten Aufruf zum Reifenwechsel abbog.
Nach dem Rennen wurde viel diskutiert, ob Hamilton ein besseres Ergebnis eingefahren hätte, wenn er einfach draußen geblieben wäre. Doch die Ingenieure haben eine klare Meinung: "An den Reifen von Lewis schimmerte schon die Karkasse durch. Wir hätten einen Reifenschaden riskiert, wenn wir ihn auf der Strecke gelassen hätten." Die Rundenzeiten fielen am Ende des Stints massiv ab. "Lewis wäre mindestens auf Rang sieben abgerutscht", sind sich die Strategen sicher.
Wäre Hamilton beim ersten Befehl in Runde 41 reingekommen, hätte es dagegen sicher zum vierten Platz gereicht, vielleicht sogar zum Podium. So geriet der Brite fast noch in die Fänge von Gasly, weil er nach dem Stopp mit Graining zu kämpfen hatte. "Lewis ist die Runde aus den Boxen raus viel zu schnell angegangen. Deshalb hat er am Ende auch noch Boden auf Perez und Leclerc verloren", verrieten die Ingenieure nach dem Blick auf die Daten.
Hamilton konnte sich bei Teamkollege Valtteri Bottas bedanken, dass Verstappen die WM nur mit sechs Punkten anführt. Der Finne klaute dem Holländer wertvolle Zähler. "Das war Note 10 von 10", lobte Teamchef Toto Wolff seinen Nummer-zwei-Fahrer. "Valtteri hat alles richtig gemacht. Er war der Schnellste auf der Strecke, hat Max kontrolliert, war der Beste beim Reifenmanagement und hat sich noch den Extrapunkt für die schnellste Runde geholt."
Warum ließ Vettel Slicks aufziehen?
Während alle anderen Piloten die 58 Rennrunden mit den Intermediates in Angriff nahmen, wagte Sebastian Vettel kurz nach Halbzeit den Wechsel auf Slicks. Doch schon auf der Outlap wurde schnell klar, dass es sich um die falsche Entscheidung handelte. Der Aston Martin flog mehrmals fast von der Bahn. Es blieb nur ein zweiter Boxenstopp, um zurück auf die Mischreifen zu gehen.
Vettel erklärte hinterher, warum er sich für den Poker entschieden hatte: "Auf den Intermediates befand sich fast kein Profil mehr. Der sah aus wie ein Trockenreifen. Da habe ich gedacht, dass es keinen großen Unterschied macht, wenn ich gleich auf Slicks gehe. Leider habe ich auf dem Weg aus den Boxen zu viel Temperatur verloren. Durch die Feuchtigkeit auf der Strecke, hat sich die glänzende Silikonschicht auf den neuen Reifen nicht von der Lauffläche gerubbelt. Dadurch findet der Gummi keine Haftung und generiert auch keine Temperatur. Ich habe sie einfach nicht zum Arbeiten gebracht."
Vor dem Boxenstopp lag Vettel noch an zehnter Stelle auf Punktekurs. Am Ende ließ er auf Rang 18 nur das Haas-Duo hinter sich: "Natürlich bin ich enttäuscht. Ich dachte aber, dass es einen Versuch wert ist. Am Ende war es die falsche Entscheidung von mir. Das lässt sich im Nachhinein natürlich einfach sagen. Ich denke, dass sonst ein oder zwei Punkte möglich waren. Nun stehen wir leider mit leeren Händen da."
Was ging bei Ferrari schief?
Ferrari holte in der WM-Wertung zehn Punkte auf den direkten Konkurrenten McLaren auf. Es hätten aber noch einige mehr sein können. Beide Autos verloren aus unterschiedlichen Gründen Zeit. Bei Carlos Sainz dauerte der Boxenstopp 8,1 Sekunden – also drei Mal so lange wie normal. Teamchef Mattia Binotto erklärte, was schief lief: "Der Radwechsel selbst wurde in der normalen Zeit abgespult. Doch dann wurde die manuelle Freigabe, mit der die Ampel auf Grün geschaltet wird, nicht vom System registriert. Das sorgte für die Verzögerung."
Der Spanier, der nach seiner Motorenstrafe aus der letzten Reihe losfuhr, verbuchte den achten Platz dennoch als Erfolg. Zudem wurde er nach seinen vielen Überholmanövern von den Fans auch noch zum "Fahrer des Rennens" gekürt: "Ich möchte heute nicht darauf schauen, was hätte besser laufen können. Es war auch so ein positiver Tag. Ich konnte mich mit einer sehr guten Pace durchs Feld arbeiten. Das Ziel war es, den Schaden durch die Motorenstrafe zu begrenzen. Das haben wir mit Platz acht geschafft. Ich hatte viel Spaß, vor allem im ersten Stint. Natürlich fragt man sich, was ohne den Boxenstopp-Fehler möglich gewesen wäre. Aber nach diesem Rennen kann ich einfach nicht enttäuscht sein."
Beim Schwesterauto von Leclerc wurde der gleiche Fehler gemacht wie bei Hamilton. Der Monegasse versuchte lange ohne Stopp durchzukommen. Im Gegensatz zu Mercedes wurde die Entscheidung hier aber gemeinsam mit den Ingenieuren getroffen: "Als Valtteri an die Box ging, habe ich nachgefragt, wie seine Rundenzeiten aussehen. Da gab es zu Beginn keinen großen Unterschied", erinnert sich der Pilot. "Für mich war das kein großer Poker. Wir waren zuversichtlich, dass es die richtige Entscheidung ist. Aber leider haben die Intermediates eine Graining-Phase von sechs, sieben Runden durchmachen müssen, bevor die Pace wieder okay war."
Leclerc verlor durch den verspäteten Wechsel den letzten Podiumsplatz an Sergio Perez. Binotto, der das Rennen von der Zentrale in Maranello aus verfolgte, verteidigt die Entscheidung seines Teams: "Wir haben die Reifen von Carlos nach seinem Stopp genau untersucht. Daraus haben wir geschlossen, dass Charles das Rennen durchfahren kann. Es gab keine Bedenken, was die Sicherheit anging. Es war nur eine Frage der Performance. Leider ist die Strecke am Ende abgetrocknet, was uns doch noch zum Wechsel gezwungen hat."
Waren die Strafen gerecht?
Die FIA-Kommissare mussten beim Türkei-GP vor allem in der Anfangsphase eingreifen. Schon in der ersten Kurve wurde Fernando Alonso von Pierre Gasly umgedreht. Der Franzose führte als Entschuldigung an, dass er zwischen Perez und Alonso eingeklemmt war und keinen Platz mehr hatte. Dieser Argumentation folgten die Schiedsrichter nicht. Gasly hätte ihrer Meinung nach noch ein Stück weiter innen fahren und die Kollision vermeiden können.
Deshalb wurde eine Fünf-Sekunden-Strafe ausgesprochen, die der Alpha Tauri beim Stopp absitzen mussten. "Wenn beide Fahrer eine Teilschuld haben, dann verzichten wir bei Kollisionen in der ersten Runde eher auf Strafen. Hier hatte nach Ansicht der Kommissare aber Pierre die alleinige Schuld", erklärte FIA-Rennleiter Michael Masi.
Noch klarer war der Fall beim Duell Alonso gegen Mick Schumacher. Der zweifache Weltmeister versuchte sich in Kurve 4 innen durchzudrücken und kollidierte dabei mit dem Haas-Rookie. Laut dem Urteil der Stewards war Alonso nie in der korrekten Position um das Manöver durchzuziehen. Deshalb setzte es auch hier eine Fünf-Sekunden-Strafe, die Schumacher aber auch nicht weiterhalf. Er fiel nach seinem starken Qualifying kurzzeitig ans Ende des Feldes zurück, konnte sich am Ende nur noch Teamkollege Nikita Mazepin schnappen.
Noch ein weiterer Regel-Streitfall beschäftigte die Fans in Istanbul. Im heißen Duell zwischen Perez und Hamilton in Runde 35 war der Mexikaner am Boxeneingang innen am Poller vorbeigefahren und wieder auf die Strecke zurückgekehrt. Musste es hier nicht auch eine Strafe geben? "Eine Strafe ist nur fällig, wenn man beim Einbiegen in die Boxen an der falschen Seite des Pollers vorbeifährt", erklärte Masi. "Außerdem wurde Sergio hier im Zweikampf von Hamilton abgedrängt und hatte gar keine andere Wahl. Es gab übrigens auch keine Nachfragen der beiden Teams zu der Szene."