Mit Tantra zu mehr Lust
Tantra als Lehre von der Entfaltung der Liebe im Menschen bezieht sich auf die verschiedensten Spielarten von Liebe. Damit ist keineswegs nur die körperliche Liebe gemeint.
Die altindische Liebes- und Bewusstseinsschule des Tantra gewinnt in jüngster Zeit im Westen immer mehr an Bedeutung. Jung und alt, Arbeiter und Akademiker füllen die Workshops westlicher Tantra-Schulen. Wird also der Westen doch noch erobert, wenn auch nicht vom Kommunismus? Diese Frage sollten wir mehr der Zukunft überlassen. An dieser Stelle ist es interessanter zu klären, was die Anziehungskraft des Tantra ausmacht. Ist es etwa seine sexuelle Komponente?
Aber ja. Wieso denn auch nicht? Dennoch ist Tantra nicht "Gruppensex mit Räucherstäbchen", wie viele immer noch meinen. Der folgende Artikel erhellt die Ziele und Wege des tantrischen Übungsweges und erklärt die tantrische Sicht von Sexualität, Seele, Körperlichkeit, Beziehung zum Göttlichen, Rollenverhalten, Sinnlichkeit und mehr.
Tantra ist die Lehre von der Entfaltung der Liebe im Menschen. Damit ist die Liebe in all ihren wunderbaren Facetten gemeint - die erotischen Liebe, das herzoffene Mitfühlen, die ganzheitlichen Liebe, die sich auf alle Lebewesen des Kosmos erstreckt; die Liebe in all ihren schillernden Zwischentönen, mit denen sie unsere Existenz wie ein schöner Regenbogen überspannen kann.
Typisch tantrisch
Tantra ist keine Religion im althergebrachten Sinne. Es gibt im Tantra keine Entsagung, keine Abwertung des Weltlichen, keine Diskriminierung der Frau, keinen Katalog von Bestrafungsandrohungen und keine Forderung zur Unterwerfung unter eine bestimmte Gottesvorstellung. Tantra bejaht das Leben, vergöttert das Weibliche und erklärt den Körper zur verehrungswürdigen Inkarnation des Göttlichen. Die Sexualität gilt im Tantra als heilige, heilende und einende Kraft.
Bodenständige Spiritualität
Das Göttliche ist nach tantrischer Vorstellung überall sichtbar, fühlbar, hörbar, riechbar inkarniert. Es ist nicht außerhalb von uns und wohnt nicht über den Wolken. "Hier in deinem Körper sind die Heiligen Flüsse." (Saraha Tantra)
Die tantrischen Übungen befähigen uns dazu, das Göttliche in jedem Leben um uns herum und in dem Leben in uns wahrzunehmen. Tantra nimmt den Begriff "Religio" wörtlich. Religio = Verbindung mit dem göttlichen Ursprung.
Um die scheinbaren Gegensätze des Männlichen und des Weiblichen wieder zusammen zu bringen, hat Tantra eine Vielzahl von Techniken, Ritualen und Meditationen entwickelt. Darin kehrt die Seele vorübergehend zur Ur-Einheit zurück, wo männlich und weiblich nicht getrennt sind. In der Ur-Einheit erlebt die Seele tiefen Frieden, Glückseeligkeit und Nirwana. Sie erholt sich vom Schmerz der Spaltung in Mann und Frau.
Jedoch: Es ist nicht die Inkarnation in menschlicher Form, die an dieser Spaltung Schuld ist. Schuld ist jene Konditionierung, die beide Geschlechter zwingt, ihre jeweils andere Hälfte in ihrem Inneren zu vernachlässigen oder abzulehnen. Der Mann, der seine weibliche Seite ablehnt, versucht das Weibliche im Außen von der äußeren Frau zu bekommen. Die Frau verfährt mit dem Mann in gleicher Weise.
Aber das bedeutet Konflikt und Krieg. Denn die Frau will nicht nur auf ihre eine Hälfte reduziert werden; der Mann will nicht nur auf eine Hälfte reduziert werden. Niemand will nur ein halber Mensch sein. Frauen und Männer sehnen sich gleichermaßen nach Ganzheit.
Heutzutage leiden im modernen Europa viele Menschen an der Unfähigkeit, tief durch den Körper zu lieben. Das äußert sich in einer Vielzahl sexueller Auffälligkeiten und Probleme. Etwa in Form von Erektionsschwierigkeiten, Vaginalschmerzen, Ejaculatio Praecox (frühzeitiger Samenerguss), Menstruationsbeschwerden, Lust-Problemen, Ängsten, Entzündungen und Erkrankungen im Genitalbereich. Die Ursachen sind breit gefächert und reichen vom offenen Missbrauch bis zur nach wie vor gängigen und keineswegs harmlosen Tabuisierung des sexuellen Themas.
Das Christentum hat den Körper vom heiligen Ganzen getrennt. Als Folge rumoren seither Legionen von Schuldgefühlen in der menschlichen Seele. Und im menschlichen Körper kocht rastlose Unerfülltheit. Aus allen Winkeln schreit verdrängte und pervertierte Sexualität nach Erlösung: aus dem Rotlichtmilieu und aus Herzkrankheiten, aus Missbrauchsvorfällen und Alkoholismus, aus Fernsehsucht und Esssucht.
Tantra schafft für die verdrängte Kraft des Eros einen Heilungsraum. Hier kann Sexualität erstmals frei an sich selbst erforscht, entfaltet und kultiviert werden. In diesem Raum erlernen Tantra-Neulinge beispielsweise das tantrische Selbstlieberitual oder die Lingam- (Penis-) und Yoni- (Vagina-) Massage.
Die Rede ist hier von klassischen Ritualen, nicht von sogenannten "Tantra-Massagen", mit denen Prostitutierte in Zeitungen oder im Internet werben. Diese Damen unterrichten keine traditionellen Techniken (sie sind auch gar nicht darin geschult!), noch bieten sie eine kompetente psychologische Begleitung, wie es bei diplomierten Tantra-Lehrern selbstverständlich ist.
Der Körper
Tantra sagt, dass auf dem Weg der menschlichen Vervollkommnung der Körper zurückgewonnen werden muss. Der Körper ist zwar nicht alles, aber ohne den Körper ist alles nichts - zumindest nicht hier auf der Erde. Der Körper wird nur dann zum Hindernis auf dem Weg der Gotteserkenntnis, wenn man ihn bekämpft und Heiliges und Körper in "gut" und "schlecht" spaltet. Wenn Tantra sagt "Du bist der Körper", ist nicht damit gemeint, dass der Körper nur unbeseelte Materie ist. Das Göttliche hat sich körperlich auf diesem Planeten inkarniert, um das Leben in körperlicher Form zu erfahren. Mit Höhen und Tiefen, Wonne und Schmerz, Liebe und Alleinsein, Gesundheit und Krankheit, Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Geburt und Tod.
"Du bist der Körper" ist ein Versuch, der Einheit von Gott und Mensch/Materie Ausdruck zu verleihen. Zu sagen "Du hast einen Körper" statt "Du bist der Körper" führt bereits eine Spaltung ein - als wäre der Körper nicht göttlich.
Die Sinnlichkeit
Tantra ist sinnlich. Tasten, Riechen, Schmecken, Hören, Sehen werden vom Tantra kultiviert und zelebriert. Schöne Düfte, Musik, Tanz, kulinarische Köstlichkeiten, sinnliche Massagen, Malerei, Schmuck et cetera sind nach dem Geschmack von Tantra. Wenn Sinnlichkeit nicht sein sollte, hätten wir vom Göttlichen gar keinen sinnlichen Körper bei der Geburt erhalten. Tantra betrachtet es darum als göttlichen Willen, dass wir unsere Sinne gebrauchen, verfeinern und in höchster Form genießen.
Ein tantrischer Ur-Text sagt sogar: "Wer allen Sinnengenüssen dient, erlangt die Buddhaschaft." (Guhyasamaja Tantra)
Die Sinne gelegentlich jeglicher Reizung zu entziehen, ist für Tantra kein Widerspruch. "Kurzzeitaskese" - ein yogisches Element im Tantra - ist eine wohltuende "Atempause" und erneuert und erfrischt das sinnliche Empfindungsvermögen. Angesichts der abstumpfenden Reizüberflutung der modernen Welt lehrt das Tantra Achtsamkeits-Übungen und Meditation.
Tantra vereinigt die beiden Aspekte von Lust und Disziplin zu einem für jeden Menschen beschreitbaren Übungsweg. Im Laufe seiner zweitausendjährigen Entwicklung hat Tantra eine reichhaltige Vielfalt von Techniken, Ritualen und Meditationen hervorgebracht. Dazu gehört auch Yoga.
Yoga ist ein Weg der Disziplin. Er stützt sich auf genaue Anweisungen zur Ausbildung körperlicher, sinnlicher und übersinnlicher Kräfte. Das ermöglicht dem Übenden ein schrittweises und ungefährliches Voranschreiten ohne Überforderung. Auf dem sicheren Boden der Disziplin entfaltet sich das Spielerische und Ungezwungene zu höchster Lust und Ekstase. Spontaneität, Humor und Spaß bekommen dabei eine besondere Qualität.
Ja zur Einheit des Lebens
Tantra ist eine Advaita-Lehre (Lehre von der Nicht-Dualität). Das Leben scheint Gegensätze hervorzubringen:
- Shiva - Shakti
- Mond - Sonne
- Schwarz - Weiß
- Nacht - Tag
- Nord - Süd
- Kalt - Warm
- Einatmen - Ausatmen
- Körper - Bewußtsein
- Materie - Geist
- Unten - Oben
- Yoni - Lingam (Scheide - Penis)
- Frau - Mann
- Mensch - Gott
Aber hinter diesen Gegensätzen existiert nur das Eine: Göttlichkeit. Darum gibt es auch für die Tantriker nichts Schlechtes oder Falsches, von dem sie sich absondern müssten. Es gibt keine Moralbücher, zehn Gebote oder Propheten.
Das Leben selbst ist der Meister. Unterdrückung und Kampf haben im Tantra keinen Stellenwert. Denn Tantra sieht nichts Schmutziges, Verkehrtes oder Verwerfliches in dieser Existenz. Das Herz eines Tantrikers sollte so weit sein, dass alles darin Platz findet. Es ist ein Gefäß, das die gesamte Schöpfung aufnimmt.
Der Geist des Tantra ist also höchste Verehrung allen Lebens - egal ob es sich schwarz oder weiß, schön oder hässlich, jung oder alt, wonnevoll oder schmerzlich manifestiert. Tantra lehrt, sich hinzugeben und mitzufließen, ohne Widerstand zu leisten. Das ist der Weg zur Ekstase - zur höchsten Glückseligkeit. Anders ausgedrückt: "Mahamudra ruht auf Nichts, ohne jede Anstrengung." (Tilopa, Meister des tibetischen Tantra)
Tantra ist aber nicht naiv. Es erkennt an, dass es auch andere Lebensäußerungen gibt, so etwa zerstörerische Aspekte wie Wut oder Zorn, die ebenfalls Teil der göttlichen Energie sind. Da wo Unterdrückung stattfindet, ist es gerecht, zu kämpfen. Da, wo ein schwaches Wesen misshandelt wird, darf Wut auflodern. Dafür stehen im Tantra etwa der schwertschwingende Buddha Manjushri und die zornige Göttin Kali.
Tantra hat seinen Ursprung im frühen Indien und blühte erstmalig voll in der Indus-Hochzivilisation auf. Schon damals war sie auch eng mit Yoga verwoben. Im indischen Mittelalter entwickelte sich erneut eine Tantra-Kultur, die mit zahlreichen Tempeln, Schulen, Kunstakademien und Kommunen ein bedeutsames Gegengewicht gegen die immer patriachaleren indischen Mehrheitsgesellschaft bildete. Aber dieses Gewicht war nicht stark genug, so dass Tantra unter dem Einfluss der Hindu-Orthodoxie aus der Öffentlichkeit verschwand, aber dennoch überlebte. In kleinen spirituellen Gruppen und von Einzelpersonen wurden und werden die überlieferten Traditionen bis heute gehütet und zelebriert.
In den Westen gelangte Tantra erstmals im 20. Jahrhundert durch spirituell aufgeschlossene Gelehrte - wie Arthur Avalon beziehungsweise John Woodrove, dem Autor des Kundalini-Buches "Die Schlangenkraft" - die Tibet und den indischen Subkontinent bereisten und in das tantrische Wissen eingeweiht wurden.
Aber vor allem wurde Tantra bei uns natürlich durch Osho (Baghwan Rashneesh) bekannt. Dessen "Buch der Geheimnisse", "Die Tantrische Transformation" und "Mahamudra - Die Höchste Einsicht" sind heute die wichtigsten Klassiker der Tantra-Literatur in Europa.
Oshos Schülerin Margo Anand begann in den siebziger Jahren, Tantra mit großem Erfolg auch in Seminargruppen zu unterrichten. Sie löste einen wahren Boom aus, dessen Ausdruck eine heute große und bunte Landschaft neuer Tantra-Schulen ist, die sich über ganz Europa und den nordamerikanischen Kontinent verbreitet haben.
Autor: Holger Lüttich