Besuch beim Mercedes "Race Support" in Brackley
Die Formel 1 ist längst eine komplexe Wissenschaft. Jedes noch so kleine Detail entscheidet über Sieg und Niederlage. Deshalb unterstützt am Mercedes-Stammsitz im englischen Brackley eine Gruppe von Ingenieuren und Studenten die Aktivitäten des Rennteams an der Strecke. Sozusagen als verlängerter Arm. Mercedes hat uns Eintritt gewährt in den „Race Support“.
Kim spricht über ihr Headset zu Phil: „Der Unterboden ist vollgelaufen mit Wasser. Wir können die Daten vergessen.“ Die Strecke ist nass. Das erste Training zum GP Italien 2018 läuft noch 20 Minuten. Die beiden Mercedes von Valtteri Bottas und Lewis Hamilton stehen in der Garage. Phil ist bei ihnen an der Rennstrecke. Kim Stevens kann die Aktivitäten an beiden Autos auf zwei Bildschirmen an der Wand vorne sehen. Sie muss dafür nur den Kopf heben. In Garage 1 sieht sie Bottas in seinem W09. Darunter in Garage 2 Hamilton in seinem Silberpfeil. Wasser hat an beiden Autos die Poren im Unterboden verstopft, in die Sensoren eingelassen sind. Sie messen den Luftdruck und liefern eigentlich Werte, ob die Aerodynamik so arbeitet, wie sie sollte.
Der 360-Grad-Blick
Gesprächspartnerin Kim – dunkelbraunes Haar, ein paar blonde Strähnen, Zopf – sitzt im über 1.000 Kilometer entfernten Brackley in der letzten von fünf Tischreihen auf dem äußersten linken Platz. Sie trägt ein weißes Team-Hemd und eine schwarze Stoffhose. Kim hat direkt vor sich drei Monitore – ein zentraler im Querformat und links und rechts davon zwei im Hochformat. Sie scannt die Telemetrie, wertet Daten aus. Immer wieder drückt sie einen der Knöpfe auf dem flachen Pult zwischen Tastatur und Bildschirm mit den Kürzeln „Aero“, „Tyres“ oder „Meeting“. Auf Knopfdruck kommuniziert sie darüber mit den Ingenieuren an der Rennstrecke. Auf ihrer linken Tischhälfte liegen zwei Notizbücher, auf der rechten steht eine Trinkflache.
Auf 22 der 30 Sitzplätze, die alle so ausgestattet sind wie der von Aerodynamikerin Kim, haben es sich Ingenieure und Studenten eingerichtet. Manche sitzen aufrecht, manche krümmen ihren Oberkörper. So wie man das aus Großraumbüros kennt. Im Gegensatz dazu ist es in diesem etwa 40 Quadratmeter großen Raum ruhig. Niemand verbreitet Hektik. Niemand schreit. 22 Personen beobachten, ihre Augen versinken in den Bildschirmen. Von der anderen Seite der Glaswand betrachtet, würden unbeleckte Zuschauer meinen, sie schauen dem NASA-Kontrollzentrum bei einer ihrer nächsten Raketenstarts zu.
Hamilton fragt seinen Renningenieur: „Erwarten wir weiteren Regen?“ Pete Bonnington antwortet, während das Kontrollzentrum zuhört: „Nein. Wir warten ab, ob die Strecke bis zum Trainingsende auftrocknet. Hülkenberg und Sainz suchen bereits abseits der Ideallinie nasse Stellen, um ihre Intermediates zu kühlen. Es macht keinen Sinn, zu fahren.“ Die fast 1.000 PS starke, silberne Rakete wird erst am Nachmittag wieder gezündet.
auto motor und sport ist mittendrin und beobachtet die Arbeit im sogenannten „Race Support“. Das ist die Abteilung, die den Ingenieuren an der Rennstrecke zuarbeitet, und ihnen hilft, den Blick durchs Schlüsselloch zu einer 360-Grad-Perspektive zu erweitern. „Wir sind wie ein Auge im Himmel. Wir können das Auto nicht anfassen. Auf die Strecke müssen es die Leute vor Ort bringen. Wir haben den Luxus, einen Schritt zurück zu gehen, das große Bild anzuschauen, die Daten breiter zu analysieren und unsere Empfehlungen an die Gruppe an der Rennstrecke abzugeben“, sagt Dominique Riefstahl, der den „Race Support“ leitet.
Live-Chat-Room für Kommunikation
20 Minuten zuvor zum Beispiel hat Kim Stevens über ihr Headset zu Phil gesprochen, während die Mechaniker die Autos von Hamilton und Bottas für die nächste Ausfahrt vorbereiteten: „Ich würde vorschlagen, dass wir den T-Flügel montieren.“ Die Antenne im Heck steigert den Anpressdruck des Autos, erhöht aber gleichzeitig den Luftwiderstand. Eigentlich Gift auf der schnellsten Strecke der Saison. Nicht aber, wenn der Asphalt nass ist.
Das Team aus Ingenieuren für Fahrzeugdynamik, Strategen, Reifeningenieuren, Aerodynamikern, Ingenieuren für Kontrollsysteme, IT-Mitarbeitern und einer Horde von Studenten ist stiller Beobachter und Ratgeber zugleich. Der Luxemburger selbst ist einer von zwei ausgebildeten Renningenieuren im Raum. Die Gruppe nimmt an allen Sitzungen teil, die das Rennteam initiiert und abhält. Sie sind von der Vorbesprechung eine Stunde vor Trainingsbeginn bis zum „Review of Running“ dabei. In der letzten Nachbesprechung lässt das Mercedes-Team den Tag Revue passieren. Jede Abteilung spricht vor, berichtet von möglichen Problemen, von neuen Fahrzeugteilen, die getestet wurden: Motor- und Reifeningenieure, Aerodynamiker.
Brackley und Monza sind über eine Sprechanlage miteinander verbunden. Vor, nach und während allen Sessions. Das System heißt Intercom und wird von der Firma Riedel bereitgestellt. Der indische Tata-Konzern kümmert sich um den Live-Daten-Link zur Zentrale. Das System ist noch zuverlässiger als die ohnehin praktisch kugelsicheren Rennwagen. „Der letzte Blackout, an den ich mich erinnere, war Japan 2012. Bei einem Ausfall müssen wir halt zum Telefon greifen“, sagt der Abteilungschef. Auch das Motorenwerk in Brixworth hört zu, analysiert und berichtet. „Dort arbeitet die Hälfte der Leute. Die Abteilung nennt sich Track Support Office. Der Unterschied ist, dass wir uns in Brackley ausschließlich auf die Silberpfeile konzentrieren. In Brixworth betreuen wir unsere Mannschaft und unsere Motorenkunden Force India und Williams.“
Training junger Ingenieure
Kommandostand, Garage, Renntrucks im Fahrerlager, Fabrik: Mercedes hat sich wie die anderen Teams ein eigenes soziales Netzwerk aufgebaut. Die Abläufe sind eingespielt, die Kommandos einstudiert, die Architektur gläsern. Jeder weiß zu jeder Zeit, was der andere macht.
Liberty Media und die FIA vergeben jedem Formel-1-Team nur 60 Pässe für Mitarbeiter, die an einem Rennwochenende direkt mit dem Auto zu schaffen haben. Also Mechaniker, Ingenieure, Strategen. Sie treffen die Entscheidungen. Brixworth und Brackley sind ihr verlängerter Arm. Es begann vor über zehn Jahren mit drei Mitarbeitern, die aus den TV-Aufnahmen so viele wertvolle Informationen wie nur möglich filterten. Dreimal ist der Race Support seither umgezogen. Die Räume wurden größer und komfortabler. Inzwischen trennt ihn nur noch eine Glasfassade vom Designbüro.
Mercedes führt hier auch die Ingenieure von morgen heran, trainiert sie, bildet sie aus. Hier sammeln sie ihre Erfahrungen, bevor sie Jahre später vielleicht einmal zum Rennteam an der Strecke stoßen. Hier schauen sie den obersten Ingenieuren über die Schulter. Wie ihm: Sechs Minuten nach Beginn des zweiten Trainings in Monza betritt Technikdirektor James Allison den Raum. Unter seinem linken Arm klemmt sein Laptop. Allison setzt sich in die dritte Reihe. Die anderen analysieren unterdessen die Ursache für den mehrfachen Überschlag von Marcus Ericsson in seinem Sauber C37, und erkennen schnell, dass es an einem fehlerhaften DRS lag. „Der Flap blieb offen, als Ericsson auf die Bremse stieg“, sagt einer. „ Richtig“, ein zweiter Ingenieur. „Erst als er nach links abbiegt, klappt er zu“, ergänzt ein Dritter.
Videoanalayse im „Race Support“
Mercedes beobachtet die Konkurrenz genau. Einer der Mitarbeiter im Race Support wirft einen genauen Blick auf die Autos der Gegner. Zuerst klickt er eine Präsentation des Renault R.S.18 durch. Dann sieht er sich Fotos des Red Bull RB14 an. Später ist der Ferrari SF71H dran. Jedes Bild ist beschriftet.
Sebastian Vettel holt in der Parabolica weit aus. Man erkennt es gut auf dem großen Monitor, neben dem auf weiteren Bildschirmen Aufnahmen aus drei verschiedenen Cockpitkameras laufen sowie die Wettervorhersage von Meteo France und die Rundenzeiten zu sehen sind. Hamiltons WM-Rivale fährt in seinen schnellsten Runden mit allen vier Rädern über den weißen Strich. „Könnt ihr uns mehr Aufnahmen und Bilder schicken“, fragt ein Ingenieur von der Rennstrecke. Die Fahrer sollen das Thema im Fahrerbriefing mit Rennleiter Charlie Whiting einbringen. Man will klären, was erlaubt ist und was nicht.
Studenten suchen bereits das Material zusammen. Die Hoheit über die Videoanalyse liegt beim „Race Support“. Nach einem Unfall, wie ihn Bottas am Start in Belgien hatte, durchforsten sie jedes Video, jedes Perspektive, um ein genaues Schadensbild zu zeichnen: Müssen wir den Frontflügel wechseln, oder nicht? Riefstahl erklärt: „Jeder Volontär kann im Race Support Station machen. Das sind Studenten, die ein 30-monatiges Praktikum absolvieren. Jede Unterstützung ist willkommen. Ich gebe zu, Videos zu kategorisieren und Funksprüche abzuhören und zu transkribieren, ist nicht der spannendste Job der Welt. Jedoch bekommen sie einen Einblick in einen Formel-1-Rennstall, wie ihn sonst kein anderer hat. Sie sitzen ab dem ersten Briefing am Tisch. Sie wissen, was wir vorhaben, wie unser Programm aussieht, hören, was die Fahrer und Ingenieure sagen. Sie lernen auch, was die anderen Teams machen.“
Unterstützung bei der Strategie
Am Funk wird über Motoreinstellungen, Bremsbalance, Reifendrücke, Probestarts und Fahrverhalten gesprochen. Die Studenten und Jung-Ingenieure hören mit. Hamilton wendet sich an James Vowles. „Wo verliere ich Zeit auf die Ferraris?“ Der Chefstratege: „In der zweiten Lesmo-Kurve. Am Ausgang von Kurve zehn hast du hinter Alonso gelupft. Und im Scheitelpunkt der Parabolica. Ferrari hat die Power runtergeregelt. Dafür profitierte Vettel vom Windschatten.“
Ein Teil im Race Support unterstützt den Cheftaktiker bei der Strategie. Indem sie die vorher gemachten Annahmen und Hochrechnungen zu Reifenverschleiß, Überrundungsverkehr und Boxenstoppzeiten ständig abgleichen. „Wir überprüfen unsere Prognosen und helfen, die Umrisse zu skizzieren. Der Chefstratege hat aber immer das letzte Wort“, erklärt Riefstahl. Viele der Entscheidungen fallen in Sekundenbruchteilen: Wissenschaft Formel 1.