Mercedes-Vorsprung wird kleiner
Das war wie ein Ritterschlag. Valtteri Bottas hat Lewis Hamilton in dessen Wohnzimmer geschlagen. Mercedes brachte beide Autos in die erste Startreihe, aber es war knapp. Ferrari und Red Bull holen langsam auf.
Silverstone ist Mercedes-Land. Nicht mehr ganz so wie noch vor ein paar Jahren, doch es reicht immer noch für die Favoritenrolle. Auch wenn inzwischen 78 Prozent der 5892 Meter in Silverstone mit Vollgas gefahren werden, bleiben Mercedes immer noch genug Kurven, das Defizit auf Ferrari auf den Geraden wettzumachen. In den Vollgaskurven sind alle sowieso gleich schnell. Doch da gibt es Unterschiede, wie uns die Mercedes-Ingenieure erklären: „Copse Corner ist wie ein Gerade. In den Schlängelkurven von Maggotts und Becketts rutscht das Auto. Das ist auf eine Runde kein Problem, auf die Distanz aber schon. So macht man sich die Reifen kaputt.“
Übersetzt heißt das: Mercedes rechnet im Rennen mit einem größeren Vorsprung. Weil Ferrari dann darunter leiden wird, dass die Reifen zu heiß werden. Deshalb ist Red Bull im Rennen auch stärker einzuschätzen als die roten Raketen. Weil die Autos des WM-Dritten nicht so viel rutschen. Die Longruns sprachen eine eindeutige Sprache. An die Kurvengeschwindigkeiten der Mercedes kommen die Red Bull trotzdem nicht heran, wie unser GPS-Diagramm der jeweils schnellsten Runden zeigt.
Mercedes war es zu kalt
Obwohl Mercedes seine Favoritenrolle eingelöst hat, sieht Teamchef Toto Wolff die Gegner näher kommen. „Ferrari und Red Bull haben klar aufgeholt. Es ist uns nicht leicht gefallen, in die erste Startreihe zu fahren. Ferrari war bis zum Q2 unheimlich stark, aber zu Beginn von Q3 schienen sie rückwärts und wir vorwärts zu gehen. Der Grip nahm auf der Strecke zu, und unsere Fahrer fanden ihren Rhythmus und für uns fügte sich alles zusammen.“
Ein Grund für den knappen Vorsprung von Mercedes auf seine Verfolger waren die tiefen Temperaturen. Richtig gehört. In Österreich war es umgekehrt, doch das hatte mit der Kühlung zu tun. Diesmal ging es um die Reifen. Die Asphalttemperatur war gegenüber Freitag um 10 Grad gesunken. Da hatten sogar die Mercedes Mühe ihre Reifen in das Arbeitsfenster zu bekommen. Es sieht so aus, dass Mercedes generell mit weniger Radsturz als seine Gegner fährt, um die Reifen länger am Leben zu halten. Bei kühlem Wetter kann man dafür mit einem schlechteren Aufwärmverhalten für die eine schnelle Trainingsrunde büßen.
Technikchef James Allison bestätigte: „Es war nicht einfach, auf dieser Strecke das Beste aus den Reifen herauszuholen. Denn diese werden einerseits in den schnellen Kurven stark belastet, kühlen andererseits aber bei den niedrigen Temperaturen auch schnell wieder ab. Das hat uns das Leben an diesem Wochenende richtig schwer gemacht.“ Toto Wolff sah darin auch den Grund für die Superrunde von Bottas. „Valtteri hatte sie in dieser Runde perfekt im Fenster und Lewis eben nicht. Beim zweiten Versuch im Q3 war es umgekehrt. Es war heute auch eine Frage, wie du deine Reifen behandelt hast.“
Keine perfekte Runde für Bottas
Für Valtteri Bottas ist die vierte Pole Position des Jahres wie ein Ritterschlag. Nirgendwo zählt sie mehr als in Silverstone, wo Lewis Hamilton immer mit einem mentalen Extra-Boost unterwegs ist. Der Weltmeister musste nur ein Rad auf die Strecke setzen, da peitschten ihn schon 100 000 Fans lautstark an. Der fünffache Silverstone-Sieger trug seine Trainingsniederlage mit Fassung: „ Mein Auto war gut, besser als gestern, als wir noch mit einem nervösen Heck zu kämpfen hatten. Ich habe im ersten Versuch in der Brooklands-Kurve einen Rutscher gehabt. Das konnte ich zum Schluss nicht mehr gutmachen. Manchmal fehlt einfach der rechte Rhythmus. Valtteri hat seinen Job einfach besser erledigt als ich.“
Die Runde des Finnen war nahe an der Perfektion. „Ganz perfekt kriegst du es hier nie hin. Dazu bläst der Wind zu stark, und auch der neue Asphalt ist nicht leicht zu lesen. Es gibt Stellen mit mehr und mit weniger Grip.“ Bottas weiß, dass er sich für die Pole Position nicht viel kaufen kann. Er muss Punkte auf seinen Teamkollegen gutmachen: „Ich muss die Bestzeiten im Training auch in Siege ummünzen. Und wir alle wissen, wie stark Lewis im Rennen ist“, fordert Bottas von sich selbst.