Vettel fehlt Vertrauen ins Heck
Silverstone ist eine Mercedes-Strecke. Deshalb wertet Ferrari den knappen Rückstand von Charles Leclerc als Fortschritt. Doch die Upgrades am Auto kommen nur bei einem Auto an. Sebastian Vettel verlor sechs Zehntel auf seinen Teamkollegen.
Die Prognose von Ferrari-Teamchef Mattia Binotto in der Pressemitteilung vor dem GP England klang eher pessimistisch: „Die Strecke von Silverstone kommt unserem Auto nicht entgegen.“ Nach der Qualifikation in Silverstone musste Binotto seine Meinung revidieren. Charles Leclerc stellte seinen Ferrari mit einer Zeit von 1.25,172 Minuten auf den 3. Startplatz und war dabei 0,079 Sekunden langsamer als der Trainingsschnellste Valtteri Bottas. „Es zeigt, dass unsere jüngsten Verbesserungen am Fahrzeug anschlagen“, freute sich der Teamchef.
Eine Zeitlang sah es so aus, als hätte Leclerc selbst auf die Pole Position fahren können. „Ich glaube nicht, dass die Pole für uns drin lag, auch wenn ich die letzte Kurve nicht optimal erwischt habe“, wehrte der 22-jährige Monegasse ab. Der Beinahe-Sieger von Bahrain und Spielberg war trotzdem zufrieden: „Wir haben nicht erwartet, dass wir so nah an die Mercedes ranfahren können. Vor allem am Freitag sah es nicht so aus. Da hatten wir noch große Probleme mit der Vorderachse. Das haben wir aber bis zur Qualifikation einigermaßen in den Griff bekommen.“ Ferraris neuer Star spricht das Untersteuern an, das dem Auto in den Genen zu liegen scheint.
Ferrari schwimmt gegen den Strom
Taktisch schwamm Ferrari wie schon in Österreich gegen den Strom. Während Mercedes und Red Bull für den Start-Turn dem Medium-Reifen den Vorzug gaben, pokerte Ferrari erneut mit dem Soft-Gummi. Obwohl der SF90 den Speed hatte, auch mit Medium-Reifen locker durch das Q2 zu kommen. Binotto begründet die alternative Strategie mit dem Anspruch von Ferrari zu gewinnen: „Wir sind noch nicht ganz an Mercedes dran. Deshalb müssen wir etwas anders machen. Wenn wir gleich fahren wie sie, wird es schwer sie zu schlagen.“
Bei Red Bull wunderte man sich über Ferraris Schachzug. „Du musst nicht etwas anderes, sondern etwas schlaueres machen“, spottet Sportdirektor Helmut Marko. Dann zuckt der Doktor mit den Schultern: „Vielleicht wissen die etwas, was wir nicht wissen.“ Mercedes-Teamchef Toto Wolff wunderte sich auch: „Damit legt sich Ferrari taktisch schon auf ein Zweistopp-Rennen fest. Wir müssen den Soft-Reifen nicht anrühren und können uns für ein oder zwei Stopps entscheiden.“ Da sich Ferrari einen frischen Satz Soft aufgehoben hat, darf man von einer Reifenfolge Soft-Soft-Medium ausgehen. Bei Mercedes zweifelt man, dass dieser Weg zum Ziel führt, auch wenn er auf dem Papier der schnellste ist. Im Verkehr sind die Hochrechnungen oft graue Theorie. „Mit dem Soft-Reifen bist du in der Laufzeit zu stark eingeschränkt.“
Pirellis weichste Gummimischung zeigte in den Longruns am Freitag starke Verschleißerscheinungen. Bei den Ferrari war nach sieben Runden auf einem Streifen von vier Zentimetern am linken Vorderreifen die komplette Gummischicht weggehobelt. Das trat zwar am Samstag nach Gegenmaßnahmen an der Abstimmung nicht mehr auf, kann aber nach Ansicht von Pirelli-Sportchef Mario Isola jederzeit wiederkommen. „Im Rennen haben die Autos wieder mehr Benzin an Bord und sind schwerer. Und es könnte wieder etwas wärmer werden. Das kühle Wetter am Samstag hat geholfen, dass der Verschleiß nicht so groß war.“
Was ist nur mit Vettel los?
Sebastian Vettel landete nur auf dem 6. Startplatz. Der Abstand auf Teamkollege Charles Leclerc fiel mit 0,615 Sekunden riesig aus. Ein Klassenunterschied. Verteilt auf die drei Sektoren verlor Vettel im ersten Abschnitt 0,180 Sekunden, im zweiten 0,261 Sekunden und in den letzten vier Kurven 0,106 Sekunden. Der vierfache Weltmeister war auch nach dem Briefing noch nicht viel schlauer. „Ich spüre die Hinterachse nicht. Beim Einlenken habe ich keine Vertrauen in das Heck.“
Der WM-Dritte weiß nur, dass etwas in großem Stil aus dem Ruder gelaufen ist. „Ich bin vom Q1 bis zum Q3 nur um ein Zehntel schneller geworden. Am liebsten hätte ich im Q3 noch einmal die Medium-Reifen genommen, aber die brauchen wir noch für das Rennen.“ Das unruhige Heck führte zu gewaltigen Speedunterschieden. „In der Becketts-Passage bin ich 20 km/h langsamer als Charles. Da verliere ich allein zwei, drei Zehntel. Normal wäre ein Unterschied von vielleicht acht Hundertstel.“ Vettel rätselte: „Der Unterschied ist auch nur auf eine Runde so groß. Im Rennen ist es dann ungefähr gleich.“
Es ist nicht das erste Rennen, dass Vettel gegen Leclerc kein Land sieht. Und es sind immer die gleichen Symptome. Seit dem GP Frankreich fehlt Vettel das Gespür für sein Auto. Seit diesem Rennen hat Ferrari damit begonnen, das Auto umzubauen. Der größte Feind des SF90 war von Beginn des Jahres an das Untersteuern. Je mehr Ferrari versucht, Last auf die Vorderachse zu bekommen, umso nervöser fühlt sich das Heck an. Leclerc kann damit gut leben. Das ist sein Fahrstil. Vettel dagegen braucht eine stabile Hinterachse, damit er vom Einlenken bis zu Scheitelpunkt den Speed mitnehmen kann.
Am Freitag sah es für den Deutschen bei Ferrari noch gar nicht so schlecht aus. Der Unterschied der beiden Ferrari-Piloten pendelte in einem Bereich von weniger als einer Zehntelsekunde. Da bestand das Problem des Autos aber darin, dass es die Vorderreifen auffraß. Ferraris Reaktion darauf half den Vorderreifen, aber nicht Vettel. Mehr Abtrieb auf der Vorderachse hat genau die Probleme verschärft, mit denen er seit drei Wochen zu kämpfen hat.