Darum hat Ferrari endlich gewonnen

Der Fluch ist besiegt. Ferrari kann doch noch gewinnen. Charles Leclerc hat sich und sein Team erlöst. Für den Monegassen war es ein bitterer Lorbeer. Leclerc widmete den Sieg seinem verunglückten Freund Anthoine Hubert.
Endlich ein Sieger in Rot. Endlich mal ein Rennwochenende, bei dem alles passte. Ferraris Erleichterung zeigte sich bei der italienischen Nationalhymne. Als oben auf dem Podest Sieger Charles Leclerc gefeiert wurde, sangen unten die Teammitglieder lautstark mit. Zwölf Rennen lang hatte sich Ferrari zum Gespött der Formel 1 gemacht. Man hätte in Bahrain, Kanada und Österreich gewinnen können, aber man stolperte über die eigenen Füße. In Bahrain stand ein Kurzschluss im Weg, in Montreal eine Strafe, in Spielberg Max Verstappen. Mögliche Siege in Baku und Hockenheim vergeigte Ferrari schon im Training. Durch Unfälle und Defekte.
Auch in Spa musste das Team der Herzen noch zittern. Charles Leclerc fühlte sich an die letzten Runden des GP Österreich erinnert, wo Verstappen immer näher rückte und er auf ausgelutschten Reifen schon mit dem Rücken zur Wand fuhr. Diesmal kam Lewis Hamilton mit Siebenmeilenstiefeln immer näher. Fünf Runden vor Schluss brachen bei Leclerc die Hinterreifen ein. Bei Hamilton erst in der letzten Runde. Da war er schon bis auf 0,9 Sekunden an den Ferrari herangefahren. „Zum Überholen hätten wir zwei Runden mehr gebraucht“, glaubte der Weltmeister.
Was bremste Vettel?
Ferrari-Teamchef Mattia Binotto stellte zufrieden fest: „Der Tag heute hat gezeigt, dass wir gewinnen können. Aber nur wenn wir in allen Disziplinen perfekt sind.“ Ferrari hatte das schnellere Auto auf eine Runde, über die Distanz ein gleich schnelles auf Soft-Reifen und ein langsameres auf den Medium-Gummis. Bei den Rennsimulationen am Freitag war es noch umgekehrt. Da passte die Medium-Mischung den roten Autos besser als die ganz weiche. Warum das Pendel am Sonntag umschwang, zählt laut Binotto zu den vielen Rätseln, die diese Pirelli-Reifen in diesem Jahr mit sich bringen. „ Diese Schwankungen sind ein großes Fragezeichen. Ich glaube, Mercedes weiß auch keine Antwort.“
So war es auch. Die Mercedes-Ingenieure hatten auch nur Vermutungen im Angebot. Die 10 Grad tieferen Temperaturen am Sonntag, die einen Einfluss auf die Fahrzeugbalance und damit die Abnutzung der Reifen gehabt haben könnten. Oder Ferraris Eingriff in die Abstimmung der Autos nach den ernüchternden Dauerläufen am Freitag. Was Ferrari genau gemacht hat, bleibt natürlich geheim, aber man kann es sich anhand der Aussagen der Fahrer denken. Leclerc räumte an, dass im Rennen die Hinterreifen der limitierende Faktor waren. „Sie sind zuerst eingebrochen.“
Das würde auch Sebastian Vettels Probleme erklären. Leclerc war das ganze Wochenende schneller, teilweise mit einem Abstand von bis zu sieben Zehntelsekunden. Im Rennen bremste Vettel die höhere Reifenabnutzung. Zuletzt hatte eher Leclerc Probleme damit. „Das müssen wir analysieren“, forderte Teamchef Mattia Binotto und äußerte einen Verdacht: „Vielleicht hat es mit der Strecke zu tun.“ Was ein weiteres Indiz dafür ist, welchen Eingriff die Techniker nach dem Freitags-Training vorgenommen heben. Wie in Paul Ricard und Silverstone musste Ferrari offenbar die Vorderachse schützen, weil vorne weiter Abtrieb fehlt. Die logische Reaktion wäre vorne den mechanischen Grip zu erhöhen, was automatisch das Heck unruhig werden lässt. Gift für Vettels Fahrstil, ein Gechenk für Leclerc.
Ferrari auf Geraden unschlagbar
Die Maßnahme mag Vettel geschadet haben. Doch aus Sicht des Teams war es trotzdem der goldene Griff. Der verbesserte Grip an der Vorderachse hielt das Defizit in den Kurven in Grenzen, und er zögerte zumindest bei Leclerc das Einbrechen der Reifen hinaus. Das war der Schlüssel zum Sieg. „Ich habe gelernt, wie ich auf die Hinterreifen aufpasse“, erzählte Leclerc. Der 21-jährige Monegasse lernt überhaupt unglaublich schnell. Die Schwächen, den Reifensatz in der Qualifikation perfekt zu nutzen, stellte er bereits in Paul Ricard ab. Das Problem mit dem Reifenmanagement in Spa. „Das Rennen in Ungarn war mir eine Lehre.“
Auf den Geraden waren die Ferrari sowieso unschlagbar. In den Qualifikationsrunden und der Startrunde spielten sie ihre mysteriöse 40 PS-Spritze aus. Dazu noch den geringeren Luftwiderstand des SF90. „Da nahmen sie uns ohne DRS 15 km/h auf der Gerade ab“, staunte Mercedes-Teamchef Toto Wolff. Trotz des Power-Vorteils fährt Ferrari nicht ganz sorgenfrei nach Monza. Der Schaden am neuen Motor im Sauber von Antonio Giovinazzi ist genauso wenig geklärt wie die Defekte der neuen Mercedes-Antriebseinheit. „ Morgen trifft der kaputte Motor in Maranello ein. Es wäre gut vor Monza zu wissen, was da schiefgegangen ist“, gab Binotto zu. In Monza feiert das neue Triebwerk im Ferrari Premiere.
Der Brillenträger mit der Harry Potter-Frisur war diesmal auch auf seine Strategen stolz. Leclerc konnte sich bei seinem Teamkollegen bedanken. Vettel hatte Hamilton kurz nach Halbzeit des Rennens drei Runden lang aufgehalten. „Das hat uns fünf Sekunden gekostet“, rechneten die Mercedes-Ingenieure vor. Die taktische Schützenhilfe ergab sich so. „Wir hatten nicht mit unterschiedlichen Strategien geplant, aber Sebastian musste wegen des erhöhten Reifenverschleißes früher an die Box als geplant“, verriet Binotto.
Wechselbad der Gefühle
Doch auch mit Vettels Reifenwechsel in Runde 15 wäre noch ein Einstopprennen möglich gewesen. Der Vorjahressieger aber legte los wie die Feuerwehr und lag schon nach drei Runden virtuell in Führung. Dabei ruinierte sich Vettel vermutlich den zweiten Satz. Als Leclerc dann sechs Runden später an die Box kam, lag er 4,5 Sekunden hinter dem Ferrari mit der Startnummer 5. Das veranlasste auch ihn mehr Gas zu geben als nötig. Leclerc spielte den Eindruck herunter, Vettels unerwartet aggressiver Spurt hätte ihn herausgefordert und damit seine Reifen einem Risiko ausgesetzt. „ Ich sah, um wie viel schneller ich als Seb war. Mir war klar, dass sie mich in Führung gehen lassen würden. Es hätte bei unterschiedlichen Strategien absolut keinen Sinn gemacht, Zeit mit einem Duell auf der Strecke herzuschenken.“
Tatsächlich wurde Vettel beim Zusammenschluss der beiden Ferrari aufgefordert Platz zu machen, was der Deutsche auch brav vor La Source befolgte. Dass er später mit dem zweiten Reifensatz einige Runden zu lange auf der Strecke gehalten wurde, um Hamilton aufzuhalten und Leclerc zu helfen, musste sich fast anfühlen wie eine Demütigung. Binotto lobte, wie sich Vettel in den Dienst der Mannschaft stellte: „Seb half seinem Teamkollegen und hat damit wieder einmal demonstriert, dass ihm das Wohl des Teams am Herzen liegt.“
Für Vettel lief es trotzdem maximal schief in Spa. Zuerst der unerklärlich große Zeitunterschied im Training. Dann die Umstände im Rennen, die ihn zwangen, für Leclerc zu fahren. Und schließlich war eben dieser Stallrivale, der Ferrari mit dem ersten Saisonsieg erlöste. Vettel selbst schaffte es nach dem späten zweiten Wechsel zurück auf Soft-Reifen nicht einmal mehr auf das Podium. Die Niederlage nagte schwer an Ferraris Nummer eins. Er stellte sich beim Teamfoto in den Hintergrund, schwänzte die Ferrari-Pressekonferenz.
Leclerc ging im Ziel durch ein Wechselbad der Gefühle. Er widmete den Sieg dem tags zuvor tödlich verunglückten Anthoine Hubert. „Anthoine, Gasly, Ocon und ich kennen uns seit 2005 vom Kart. Es war ein extremes Wochenende für mich. Gestern habe ich einen Freund verloren, heute hat sich mein Bubentraum erfüllt.“