Mercedes-Kopie unter Beschuss
Es war nur eine Frage der Zeit, jetzt ist es soweit. Renault hat genug von den schnellen Racing Point und sieht in der pinken Kopie des letztjährigen Mercedes einen Verstoß gegen das Regelwerk. Es ist wahrscheinlich, dass sich der Fall über Tage zieht.
Der erste Grand Prix der Steiermark hat ein Nachspiel. 145 Minuten nach Rennende verschickten die vier Stewards des zweiten Rennens des Jahres Post. Darin schilderten Gerd Ennser, Felix Holter, Walter Jobst und Fahrerkommissar Emanuele Pirro, dass Renault einen Protest gegen die beiden Autos mit der Startnummer 11 und 18 lanciert hat. Das sind die beiden Racing Point.
Renault klagt über das Design des RP20 und wirft der Mannschaft aus Silverstone einen Verstoß gegen die Artikel 2.1, 3.2 des Sportgesetzes und die Anhänge 6.1, 6.2(a) und 6.2(c) vor. Um es auf den Punkt zu bringen: Der französische Werksrennstall prangert öffentlich an, dass das pinke Auto eine dreiste Kopie des Vorjahres-Mercedes sei und da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Im Detail hat Renault die Bremsbelüftungen im Visier. Sie gehören seit diesem Jahr zu den sogenannten "Listed parts"; Teile, die jedes Team selbst bauen muss und nirgends einkaufen darf.
Renault wird es zu bunt
Es rumorte bereits bei den Wintertestfahrten im Februar. Als der Racing Point RP20 zum ersten Mal die Garage verließ, staunte die Konkurrenz nicht schlecht. Dieses Auto sah aus wie ein Abziehbild des Mercedes W10 – nur mit einer anderen Lackierung. Nase, Frontflügel, Bargeboards, Seitenkästen, Motorabdeckung, Heckflügel: Alles wirkte detailgetreu nachgebildet.
Und als die Konkurrenz dann auch noch sah, wie schnell der RP20 tatsächlich ist, wurde hinter vorgehaltener Hand von einem Plagiat gesprochen. Red Bull, Renault, McLaren und Alpha Tauri waren alles andere als glücklich. Sie appellierten an die Konstrukteurs-Ehre, die doch eigentlich dafür sorgen sollte, dass jeder sein eigenes Auto entwirft. Racing Point hingegen verstand die Klagen nicht. "Der Mercedes ist das beste Auto im Feld. Da ist es doch logisch, dass wir uns gewisse Sachen abschauen. Wir haben nichts Verbotenes gemacht. Wir wundern uns vielmehr, dass kein anderes Team das schnellste Auto kopiert."
Die Corona-Krise, die Existenzängste, der ungewisse Saison-Fahrplan und die Sparmaßnahmen ließen das Thema für Monate in den Hintergrund rücken. Beim zweiten Saisonrennen brachen die alten Wunden aber wieder auf. Da wurde es Renault zu bunt. Racing Point fuhr am Trainingsfreitag auf dem Niveau von Mercedes und Red Bull. Am Qualifikationssamstag stolperten Sergio Perez und Lance Stroll mit kalten Reifen über die Strecke. Doch einen Tag später legten sie eine Aufholjagd auf den Asphalt, die die Konkurrenz schäumen ließ.
Stroll arbeitete sich vom 12. Startplatz auf die siebte Position vor. Perez vom 17. auf den sechsten Rang. Der Mexikaner wäre eigentlich Vierter geworden, hätte er sich in der Schlussphase nicht den Frontflügel am Red Bull von Alexander Albon zerstört. Die Geschwindigkeit von Racing Point, insbesondere von Perez, war beeindruckend. In freier Luft fuhr der Routinier im Team fast auf dem Niveau der Mercedes an der Spitze.
Streit um "listed parts"
Die McLaren und Renault ließ Perez scheinbar mühelos stehen. Selbst bei Red Bull sorgte man sich. "Das Tempo von Perez war unglaublich. Wenn sie das auf anderen Strecken wiederholen, ist es selbst für uns beängstigend", meinte Red Bulls Sportchef Helmut Marko.
Renault hat nun genug und verlangt von der FIA nach Aufklärung. Enstone scheint den Verdacht zu hegen, dass es zwischen Racing Point und Mercedes zu einem Austausch kam. Verstärkt wird der Verdacht, dass der WM-Vierte für seine Aerodynamikentwicklung den Windkanal des Weltmeisterteams in Brackley nutzt. Motor, Getriebe und die dazugehörige Hinterradaufhängung kauft Racing Point bei Mercedes ein. Das erlaubt das Reglement.
Renault stört sich aber an den Teilen, die man per Definition nicht zukaufen darf. Die Franzosen fragen sich, wie Racing Point selbst die Aerodynamikoberflächen so präzise kopieren konnte. Die Verärgerung ist groß. Der Werksrennstall sieht seine Fälle davonschwimmen. Der vierte Platz in der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft ist das Ziel. Und der scheint unerreichbar, wenn Racing Point seine Hausaufgaben erledigt, Strategiefehler abstellt und auf den Startpositionen startet, die das Auto eigentlich hergibt. Und weil Ferrari in dieser Saison so ein schwaches Auto gebaut hat, liegt vielleicht sogar der dritten Platz drin. Das bringt Prestige und noch mehr Preisgeld. Das kann jeder Rennstall zu Zeiten von Corona gut gebrauchen. Selbst ein Hersteller.
Hat der Protest Erfolg?
Das Team aus dem englischen Enstone sieht einen Verstoß gegen fünf Abschnitte des Sportlichen Reglements. Die Artikel 2.1 und 3.2 sind eher allgemeiner Natur. Hier verpflichten sich alle Teilnehmer, die Bestimmungen und Gesetze des Sportcodex, des Sportregelwerks und der Technikregeln zu beachten und einzuhalten. Die Teilnehmer müssten sicherstellen, dass ihre Autos während der Trainings und während des Rennens den Teilnahmebedingungen und den Sicherheitsstandards entsprechen.
Im Anhang 6 wird es spezifischer. Wir wollen sie nicht mit Details überfrachten. Im Grundsatz geht es hier darum, dass sich die Teilnehmer an die Bestimmungen der "listed parts" halten. Das sind diejenigen Fahrzeugteile, die jeder Rennstall selbst konstruieren muss und die nicht zugekauft werden dürfen. Wie zum Beispiel das Chassis, die vordere Crashstruktur oder das Bodywork.
Besonders interessant ist der Wortlaut von Anhang 6, Paragraf 2(c). Hier steht geschrieben: "Im Falle des Outsourcings von Design-Teilen ist diese dritte Partei kein Wettbewerber oder eine Partei, die direkt oder indirekt gelistete Teile für einen Wettbewerber entwirft." Damit zieht Renault indirekt auch Mercedes in den Fall. Zwischen den Zeilen wähnt Renault hier offenbar einen Austausch zwischen zwei Teams. Ausgelagert darf der Bau der "listed parts" maximal an einen Konstrukteur, der nicht im Wettbewerb steht. So wie Dallara. Dort baut HaasF1 sein Chassis. Es ist fraglich, ob Renaults Protest sichthaltig genug ist, damit die Stewards Racing Point tatsächlich bestrafen. Racing Point-Teamchef Otmar Szafnauer meinte noch vor der eingereichten Klage: "Ich weiß nicht, warum und gegen was jemand überhaupt protestieren sollte."
Der Fall wird die Formel 1 die nächsten Tage beschäftigen. Die Rennkommissare verkündteten um kurz nach 21 Uhr, ihr Urteil aufzuschieben. Der Protest ist zugelassen, die Bremsbelüftungen des RP20 (beide Autos) vorn und hinten wurden konfisziert. Außerdem verlangen die Kommissare weiteres Material und die Bremsbelüftungen des letztjährigen W10 von Mercedes.
Der Mittelfeldkonkurrenz wird Renaults Vorstoß in jedem Fall nicht ungelegen kommen. Soll sich die Konkurrenz doch beschmutzen und gegenseitig schwächen. Allein die Klage bindet Ressourcen. McLaren jedenfalls schien sich nicht einmal mehr über einen Protest Gedanken zu machen. "Der pinke Vorjahres-Mercedes ist ein sauschnelles Auto, das von einem guten Team eingesetzt wird. Wir haben unsere Entwicklungsziele mit Blick auf den letztjährigen Mercedes gesetzt. Das Auto war die Benchmark. Dort wollten wir mindestens hinkommen. Wir müssen unser Auto weiter verbessern und unsere Möglichkeiten maximal ausschöpfen, um Racing Point dauerhaft in die Schranken zu weisen."