Hätte Albon gewinnen können?
Vom Speed her hätte Mercedes haushoch gewinnen müssen. Sorgen um die Standfestigkeit, drei Safety-Car-Phasen, Strafen und ein verpasster zweiter Boxenstopp machten den Silberpfeilen dann doch noch das Leben schwer.
Der GP Österreich war eines dieser Rennen, das lange ereignislos vor sich hin tröpfelte, bis von einer Runde auf die nächste die Hölle losbrach. In Runde 51 kam Leben ins Spiel. Da stand plötzlich auch ein Doppelsieg für die haushoch überlegenen Mercedes in Frage. 15 der 27 Positionswechsel auf der Strecke konzentrierten sich auf die letzten 20 Runden.
Schuld an der Regieänderung waren ungewöhnlich viele Ausfälle und drei Safety-Car-Phasen. Der Rennleiter war am Red Bull-Ring ziemlich schnell mit dem Safety-Car bei der Hand. Das zeigte sich schon in der Formel 3 und Formel 2. Es hatte fast den Eindruck, als sollten die Sicherheitsvorkehrungen auf der Strecke ähnlich streng sein wie die Corona-Maßnahmen.
Nach der überlegenen Vorstellung der Mercedes am Samstag musste alles andere als ein Doppelsieg am Sonntag eine Überraschung sein. Was zu dem Zeitpunkt keiner wusste. Die Mercedes-Ingenieure plagten schon im Training große Sorgen um die Zuverlässigkeit ihrer Autos. Es brannte gleich an mehreren Stellen.
Das Getriebe war bereits am Ende der zweiten Trainingssitzung und vor der Qualifikation eine Baustelle. Nicht die Mechanik macht Zicken sondern die Elektronik. Chefingenieur Andrew Shovlin drückte es vorsichtig aus: "Es handelt sich um elektrische Störungen in mehreren Systemen." Soweit es das Getriebe betrifft, besteht die Gefahr, dass sich die Gänge nicht mehr einlegen lassen.
Nach Aussage der Ingenieure hat die Malaise nichts mit der Strecke zu tun. Die Vibrationen auf den aggressiven Randsteinen des Red Bull-Rings verschärften nur die Probleme. Deshalb wiesen die Strategen beide Fahrer an, den Kerbs fernzubleiben.
Das kostet laut Valtteri Bottas zwei bis drei Zehntel in der Rundenzeit. Wenn man dann noch im Finale harte Reifen am Auto hat, die über 40 Runden alt sind und die Konkurrenz mit 30 Runden jüngeren Gummis unterwegs ist, dann kommen selbst die Silberpfeile in Gefahr.
Räikkönen erster Safety-Car-Verlierer
Der Ausfall von Max Verstappen machte es den Mercedes noch leichter. Immerhin verlor der Holländer auf den Medium-Reifen nur 3,3 Sekunden auf Spitzenreiter Bottas. Red Bulls Taktikcoup wurde im Jahr davor von Mercedes uraufgeführt. Bei der Dominanz der Autos kam er für den Weltmeister aber diesmal nicht in Frage.
"Es gab von den Rundenzeiten und der Haltbarkeit zwischen Medium und Soft kaum Unterschiede", erklärten die Strategen. "Wir wollten auf Soft starten, um dann die Wahl Medium oder Hart zu haben. Der Medium-Reifen am Start hat nur einen Vorteil. Du kannst auf ein spätes Safety-Car spekulieren und dann mit weichen Reifen zur Attacke blasen."
Das erste Safety-Car, ausgelöst durch Kevin Magnussens Abflug in Kurve 3, störte den Mercedes-Marschplan noch nicht, er dampfte nur ihren Vorsprung von 16 Sekunden auf den Rest des Feldes ein. Der Doppelstopp bei 3,2 Sekunden Abstand zwischen Valtteri Bottas und Lewis Hamilton war gesetzt.
Selbst wenn einer der direkten Verfolger auf der Strecke geblieben wäre, um die Führung zu übernehmen, hätte das keinen Schaden angerichtet. Der Mercedes-Express hätte jeden Gegner auf dann alten Reifen niedergewalzt. In diesem Jahr stimmt auch wieder der Top-Speed.
Der Boxenstopp in der ersten Safety-Car-Phase war für alle Pflicht, auch wenn er für Mercedes fünf Runden vor dem geplanten Reifenwechsel kam. Großer Verlierer war Kimi Räikkönen, der eine Runde zu früh an die Boxen kam. Das kostete den Finnen einen Platz.
Im zweiten Stint normalisierte sich die Lage schnell wieder. Bottas und Hamilton bliesen an der Spitze auf und davon, obwohl die Warnungen am Funk immer deutlicher wurden. Fast schien es eine Weile, dass der Kommandostand dadurch einen direkten Zweikampf verhindern wollte.
Das wurde von Toto Wolff aber schnell dementiert: "Es gab weder eine direkte noch versteckte Stallregie." Beide Fahrer hatten die gleichen Probleme, beide mussten die gleichen Schutzmaßnahmen ergreifen. Trotzdem hängten sie Alexander Albon bis zur 50. Runde um 11,6 Sekunden ab.
Deshalb stoppte Mercedes kein zweites Mal
Erst als George Russell seinen Williams auf der Schönberg-Gerade parkte, wurde die Sache ernst. Sieben Fahrer nutzten das zweite Safety-Car zum zweiten Boxenstopp. Mercedes war nicht dabei. Damit hatten Bottas und Hamilton in ihrem Rücken Verfolger mit weicheren und frischeren Reifen.
Red Bull ging mit Soft-Reifen für Albon aufs Ganze. Ferrari und McLaren taktierten konservativer mit Medium-Gummis für Charles Leclerc, Lando Norris und Carlos Sainz. Mercedes verwarf einen zweiten Boxenstopp aus zwei Gründen. Als Spitzenreiter ist man verwundbar. Mercedes hatte Angst, dass die Konkurrenz das Gegenteil macht und auf der Strecke bleibt.
Der Titelverteidiger hätte aus Fairness-Gründen beide Fahrer mit frischen Reifen versorgen müssen, was Hamilton massiv Zeit gekostet hätte, weil er bei nur 1,7 Sekunden Rückstand auf Bottas hätte warten müssen. "Wir wollten nicht ins Feld fallen und dann gezwungen sein zu überholen. Vor allem nicht mit unserer Vibrationsvermeidungs-Strategie", verteidigte Shovlin die Taktik.
Zum Glück für Mercedes entschied auch Racing Point, Sergio Perez auf der Strecke zu lassen. Das schenkte dem Mexikaner einen Platz gegen Alexander Albon, den er beim Re-Start aber gleich wieder verlor. Perez war auf ausgelutschten Medium-Reifen gegen Albon mit Soft-Gummis machtlos.
Albon ließ den Racing Point zwar erst wieder passieren, weil er sich nicht sicher war, ob das Überholmanöver schon in die dritte Neutralisation fiel, die Kimi Räikkönen mit seinem Dreirad gerade ausgelöst hatte. Nach Konsultation mit der Rennleitung durfte Albon wieder vor.
Als das Feld dann ein drittes Mal wieder Fahrt aufnahm, fiel Albon sofort über Hamilton her. Der Vorteil der weichen Reifen war eklatant. Der Red Bull konnte in Kurve 4 auf der Außenspur schneller fahren als Hamilton innen. Albon war schon fast vorbei, als ihn Hamilton am rechten Hinterrad berührte.
Während der Weltmeister von einem "normalen Rennunfall" sprach, machte Albon klar, wer die Schuld trägt. "Ich dachte, ich wäre an Lewis schon vorbei. Der Stoß kam so spät in der Kurve, dass er mich total überraschte. Ich gab ihm all den Platz, den er brauchte, also lag die Entscheidung bei ihm, ob es zum Crash kommt oder nicht."
Mercedes argumentierte, Albon hätte nach außen noch genug Straße frei gehabt, um die Kurve zu nehmen. Die Sportkommissare waren anderer Meinung. Sie bestraften Hamilton, was Albon nichts half: "Ich bin mir sicher, dass ich Bottas in der nächsten Runde gekriegt hätte. Es wäre ein leichter Sieg gewesen." Vom Speed her mag er Recht haben. Doch dann hätte auch der Honda-Motor in Albons Auto nicht schlapp machen dürfen.
Vier Fahrer gegen Hamilton
Damit war die Luft noch lange nicht raus aus diesem Rennen. Jetzt ging es darum, ob die Mercedes überleben und ob Hamilton seine Fünfsekunden-Strafe gegen die näher rückenden Gegner verteidigen würde können. Es war ein Balanceakt zwischen zu viel und zu wenig Risiko.
"Wir standen kurz vor einem Ausfall", gaben die Ingenieure im Rückblick zu. Die Flucht nach vorne war für Hamilton schwierig, weil vor ihm Bottas mit ähnlichen Problemen unterwegs war. Der Finne hatte sich mit seiner persönlich schnellsten Runde eigentlich schon auf 2,1 Sekunden abgeseilt, als ihm der Teamkollege einen Umlauf später wieder im Getriebe hing.
Die Strategen erklärten warum: "Nach seiner schnellsten Runde legte Valtteri eine langsamere ein, um die Batterien aufzuladen. Ausgerechnet da musste er wegen doppelt geschwenkter Flaggen auch noch vom Gas." So entstand der Eindruck, der Sieger wollte seinem WM-Rivalen möglichst viel Zeit kosten, damit möglichst viele andere Fahrer von Hamiltons Strafe profitieren. Die zwei 1.08er Runden am Ende widersprachen der Theorie.
Vier Fahrer hatten die Chance, Hamilton noch von einem Podiumsplatz zu verdrängen. Sergio Perez brachte sich durch seine Strafe wegen Überschreiten des Tempolimits in den Boxengasse selbst um einen Pokal. Außerdem ließen die Medium-Reifen am Racing Point in den letzten Runden stark nach.
Carlos Sainz kostete der verspätete zweite Reifenwechsel ein mögliches Podium. Bei 6,6 Sekunden Abstand zu Lando Norris hätte McLaren zu Beginn der zweiten Safety-Car-Phase genug Luft für einen Doppelstopp gehabt. Der Stopp eine Runde nach Norris kostete Sainz zwei Positionen an Pierre Gasly und Esteban Ocon. Bis er die überholt hatte, war der Zug vorne längst abgefahren.
Charles Leclerc fuhr am klügsten. Der Ferrari-Pilot wartete geduldig auf seine Chance, Perez und Norris zu überholen. "Mit einem normalen Manöver wäre es nicht gegangen. Dazu waren wir Richtung Kurve 3 zu langsam. Ich musste auf Fehler der anderen vor der zweiten Gerade warten." Und sie ergaben sich. Kaum war Leclerc vorbei, zog er seinen Verfolgern davon.
Fernduell Norris gegen Hamilton
Für Lando Norris waren die letzten Runden eine Achterbahnfahrt. Als Perez und Leclerc an ihm vorbeigekommen waren, schien der Zug bereits abgefahren. Doch plötzlich wachte der junge Engländer auf. Angefeuert von seinem Renningenieur drückte er den Power-Modus wo er konnte und machte aus jeder Runde eine Qualifikation.
Entscheidend war das Überholmanöver gegen Perez, das eigentlich nicht nötig war, weil der Mexikaner wegen seiner Strafe fünf Sekunden verlieren würde. "Sergio hat mich aufgehalten. Und ich wollte mehr", erzählte Norris. "Und von hinten drückte ja auch Carlos."
Mittlerweile wusste er, dass auch Hamilton mit einer Strafe belastet war und dass es nicht aussichtslos sein würde, den Mercedes im Fernduell noch zu überholen. Hier ist das Protokoll der letzten sechs Runden, in denen Norris mal Dritter, mal Vierter war und erst im allerletzten Umlauf mit einer Gewaltaktion für klare Verhältnisse sorgte. Mit der schnellsten Rennrunde jagte er Bottas auch noch den Extra-Punkt ab.
Krimi im Kampf um die Punkte
Im zweiten Verfolgerpulk ging es ebenfalls drunter und drüber. Der Kampf um die Plätze 7 bis 10 stand jedoch im Schatten der Dramatik an der Spitze. Die einzige feste Größe war Pierre Gasly. Der Alpha-Tauri-Pilot hielt eisern den siebten Platz, aus dem fast noch ein sechster geworden wäre, nachdem Perez die letzte Runde nur mit 1.10,280 Minuten zurücklegte.
Dem Mann, der zwölf Runden lang auf Podiumskurs fuhr, blieben inklusive Strafe noch 1,5 Sekunden Vorsprung. Esteban Ocon lag im Schlussspurt zeitweise vor Sainz, doch dem Renault-Piloten fehlte der Speed. Seine harten Reifen waren am Ende schon 45 Runden alt.
Daniil Kvyat hatte sich komfortabel in den Punkterängen eingenistet. Nach einer Kollision mit Ocon ging die Reise rückwärts. Zuerst überholte ihn Antonio Giovinazzi, dann Sebastian Vettel. Kvyat beklagte Schäden am Frontflügel und der Aufhängung. Ein Reifenplatzer setzte seiner Fahrt schließlich ein Ende.
Vettels Punktgewinn war kein Trost, auch wenn er nach der Kollision mit Sainz eigentlich schon raus aus der Nummer war. Wie schlecht sein Ferrari gewesen sein muss, zeigten die letzten Runden am Ende des Feldes. Vettel musste sogar Giovinazzi passieren lassen. Da fehlte jedes Vertrauen ins Auto.
Die Frage lautet, wie lange er noch das Vertrauen in sein Team konservieren kann. Die Ingenieure suchten einen Tag vergeblich nach dem Fehler. Der Ferrari mit der Startnummer 5 benahm sich nach dem dritten Training wie eine launische Diva.