Taktik-Check GP Singapur 2019
Es gibt viele Gründe, warum Ferrari den Singapur-Grand-Prix gewonnen hat. Und genauso viele, warum Mercedes verlor. Der Schlüssel zum Ferrari-Sieg lag vor allem darin, dass sich Mercedes zu viel Sorgen um die Haltbarkeit der Reifen machte.
Jahrelang war Singapur eine Angststrecke für Mercedes. In der letzten Saison kam alles ganz anders. Lewis Hamilton./span> fuhr von der Pole Position zum Sieg. Einzige Sorge: Die Reifen wurden zu schnell zu heiß. Das muss in den Hinterköpfen der Ingenieure herumgespukt haben, als man ein Jahr später die Fahrzeugabstimmung und Rennstrategie festlegte. Mercedes setzte auf Reifenschonen.
Konsequenz: Die Pirelli-Sohlen kamen nur langsam auf Temperatur. „Wir mussten in der Qualifikation Aufwärmrunden im Renntempo fahren, bis zu 30 Sekunden schneller als Ferrari und Red Bull. So sind Lewis und Valtteri immer wieder auf Verkehr getroffen, weil gar nicht genug Platz nach vorne war“, zogen die Strategen hinterher Bilanz.
Ferrari ging den umgekehrten Weg. Die Autos wurden so getrimmt, dass die Reifen schnell in den Wohlfühlbereich kamen. Das verlangte langsame Aufwärmrunden. Für die Jagd nach den besten Startplätzen war das die bessere Taktik. Charles Leclerc und Sebastian Vettel stellten ihre Autos auf die Startplätze 1 und 3, Lewis Hamilton./span> und Valtteri Bottas auf 2 und 5. Im Rückblick sagte Mercedes.Teamchef Toto Wolff: „Wir haben das Rennen am Samstag verloren.“
Risiko oder Abwarten?
Mercedes hatte am Sonntag das schnellere Rennauto. Doch strategisch steckte man in der Defensive. Man hatte die Wahl zwischen hohem Risiko oder erzkonservativer Abwarte-Taktik. Ferrari konnte von der Spitze weg die Story des Rennens schreiben. Auf einem Kurs, auf dem man zum Überholen ein Delta von zwei Sekunden braucht, kann der Spitzenreiter jedes Tempo diktieren, das er will. Und damit die taktischen Optionen der Gegner einschränken.
Dabei aber hätte sich Ferrari selbst fast ein Bein gestellt. Leclerc übertrieb es mit der Bummelei. Er kopierte Hamiltons Taktik aus dem Vorjahr, war dabei aber noch einmal um zwei Sekunden pro Runde langsamer.
Während Hamilton 2018 ab der elften Runde das Tempo im Feld dramatisch anzog, um für sich selbst eine Lücke im Feld zu schaffen und seine Verfolger aus dem Undercut-Bereich abzuschütteln, kam bei Leclerc nicht viel. Der Monegasse bekam ab Runde 15 die Freigabe aufs Tempo zu drücken. Ein Mal konnte er seine Zeit um 1,5 Sekunden drücken. Dann brachen die Soft-Gummis ein.
Hamilton hätte locker schneller fahren können, nur das half ihm nicht viel. Er hatte einen Ferrari vor der Nase, den anderen im Genick. In der 18. Runde ging im Feld zwischen Platz 11 und 12, zwischen Lance Stroll und Nico Hülkenberg, eine 14-Sekunden-Lücke auf. Zu dem Zeitpunkt hatten Leclerc, Hamilton, Vettel und Verstappen das Fenster, den Boxenstopp zu wagen, um in dieses Loch zu fallen. Für Bottas reichte es noch nicht ganz.
Die Strategie-Software versprach maximal fünf Runden freie Fahrt, bis man auf eine Gruppe mit Antonio Giovinazzi, Pierre Gasly, Daniel Ricciardo und Lance Stroll treffen würde. Die waren alle auf Medium-Reifen gestartet. Sie würden lange fahren und sie würden nicht freiwillig zur Seite rücken, weil sie für ihr eigenes Rennen keine Zeit verlieren durften. Ein Boxenstopp war für die Top 4 also eine hoch riskante Angelegenheit.
Die Mercedes.Strategen erklären warum: „Es bestand die Gefahr, dass man im Verkehr die ganze Zeit wieder verliert, die man vorher in vier Runden mit frischen Reifen und freier Fahrt gewinnt. Du warst gezwungen, sofort Tempo zu machen, was die Lebenszeit der harten Reifen verkürzen würde. Es gab nur wenige Daten über deren Haltbarkeit, weil die härteste Mischung im Freien Training kaum gefahren wurde. Und schließlich war man verwundbar bei einem Safety-Car.“ Die Vergangenheit lehrt: Das kommt in Singapur zu 100 Prozent.
Bummelei kostete Leclerc den Sieg
Ferrari traf die richtige Entscheidung: Für Leclerc war das Risiko zu groß. Man wollte Hamilton nicht die Führung schenken und hatte Angst, dass die Mercedes in der Lage waren, auf den Soft-Reifen richtig Tempo zu bolzen, wenn sie mal freie Fahrt hatten. Vettel hatte dagegen nichts zu verlieren. Als klar war, dass Hamilton in der 19. Runde weiter Leclerc folgt, wurde der spätere Sieger an die Box geholt. Deshalb kam der Aufruf erst extrem spät in der letzten Kurve vor der Boxeneinfahrt.
Das war die Chance für den Undercut, dessen Effekt man in allen Teams auf rund 2,5 Sekunden eingeschätzt hatte. Es war aber auch der Schutz vor Max Verstappen, der mit seinen Reifen sichtbar in Schwierigkeiten steckte, und der wie Vettel nur gewinnen konnte. Sein früher Boxenstopp war absehbar.
Im Rückblick räumte Mercedes ein: „Wir hätten mit Lewis das machen sollen, was Ferrari mit Vettel gemacht hat. Aber wir haben den Undercut unterschätzt, wollten uns gegen ein Safety-Car schützen, hatten keine Ahnung wie schnell Leclerc wirklich fahren kann und hätten nicht geglaubt, dass man so schnell durch den Verkehr kommen kann wie Vettel.“
Der wichtigste Grund lag aber in der Sorge um die Reifen: „Wir hatten Zweifel, ob wir den harten Reifen über die Distanz bringen würden, wenn wir gezwungen wären, aggressiv zu fahren. Und was, wenn du im Verkehr hängenbleibst und dafür deine Reifen zu stark strapaziert hast? Im Nachhinein können wir sagen, dass die Sorge unberechtigt war. Der Reifen hätte es geschafft.“
Dass Ferrari Leclerc schon eine Runde nach Vettel an die Box holte, scheint ein Widerspruch zu der Einlassung zu sein, dass man Leclerc keinem Risiko aussetzen wollte. Doch Ferrari musste in Runde 20 seinen Wunderknaben an die Boxen holen. Leclercs Soft-Reifen brachen ein. Der Undercut war 3,9 statt 2,5 Sekunden wert. Eine Runde mehr, und auch Verstappen wäre vorbei gewesen.
Leclerc hat den Sieg schon verloren, bevor Ferrari entschied, Vettel zuerst abzufertigen. Die Strategen übertrieben es mit der Langsamfahrerei, getrieben von der Angst, dass es Leclerc bis mindestens Runde 20 schaffen musste, um dem harten Reifen im zweiten Stint maximal 41 Runden zuzumuten.
Hätte Leclerc wie Hamilton im Jahr davor mit 1.47er Runden begonnen und sein Bummeltempo früher eingestellt, hätte er die Gruppe um Giovinazzi, Gasly, Ricciardo und Stroll bis Runde 18 aus seinem Boxen-Fenster bekommen und dann bequem als erster aus dem Spitzenpulk stoppen können.
Safety-Car-Phase bestrafen Mercedes./strong>
Nach den Undercuts von Vettel, Verstappen und Leclerc blieb für Mercedes nur noch das andere Extrem. So lange durchhalten wie möglich, um dann am Ende mit deutlich frischeren Reifen zuzuschlagen. Bei Bottas ging der Plan schief. Er drohte hinter Alexander Albon zu fallen, der wie Leclerc in Runde 20 gestoppt hatte.
Hamilton hielt bis zur 26. Runde durch. Dann wurde es auch für ihn eng. Valtteri Bottas hörte am Funk einen Befehl, den kein Fahrer jemals hören will. „Wir brauchen 1.48er Zeiten, sonst geht bei Lewis das Fenster zu.“ Bottas musste drei Sekunden langsamer fahren als er gekonnt hätte. Es ging nicht nur darum, Hamilton vor Bottas zu halten. Wäre Bottas normal weiter gefahren, wäre Hamilton auch noch hinter Albon gefallen.
Auch der Alternativplan von Mercedes ging nicht auf. Drei Safety-Car-Phasen über insgesamt elf Runden halfen den Fahrern Reifengummi zu sparen, deren Garnituren sechs bis sieben Runden älter waren als die von Hamilton.
Dabei war die erste Neutralisation noch ein Geschenk für die Verfolger. Sie raubte Vettel eine Führung von 5,4 Sekunden und brachte Hamilton und Bottas quasi zum Nulltarif wieder an die Spitze heran. „Doch danach hat uns jede weitere Safety-Car-Phase geschadet“, ärgerten sich die Strategen. Ihr Fazit: „Wir haben einen sicheren dritten Platz für Lewis in der vagen Hoffnung geopfert, gewinnen zu können.“
Die Mercedes.Techniker spielten danach noch einmal ein Rennszenario durch, bei dem Hamilton mit Vettel und Verstappen in Runde 19 an die Boxen gekommen wäre. „Wir hätten das Rennen gewinnen können, aber es wäre eine Zitterpartie geworden. Und zwar wegen der Safety-Cars. Unsere Probleme mit dem Reifenaufwärmen hätten uns bei den Re-Starts möglicherweise gekillt. Die Ferrari wären auf den Geraden über uns hergefallen.“
Aufgrund dieser Überlegung lässt sich am Ende sagen: Mercedes ist über sein mangelndes Vertrauen in die Reifen gestolpert. Ferraris Ansatz war besser. Hauptsache Pole Position und im Rennen Tempo und Gegner von der Spitze weg kontrollieren. Notfalls mit einem langsameren Auto.
Zwei Medium-Starter in den Top Ten
Auch im Rennen um Platz sieben spielte die Erfahrung aus dem Vorjahr eine Rolle. Fernando Alonso und Carlos Sainz waren dank freier Reifenwahl von den Plätze 11 und 12 aus ins Rennen gegangen, und konnten mit ihren Medium-Reifen so lange warten, bis ihre Konkurrenten nach dem Boxenstopp im Feld verschwanden. Dann gaben sie Gas, verschafften sich genügend Luft und landeten auf den Plätzen 7 und 8. Vor der Meute, die innerhalb der Top Ten mit Soft-Reifen losgefahren war.
Diesmal funktionierte der Trick nur bedingt. Nur Pierre Gasly und Antonio Giovinazzi belohnten sich mit der Alternativtaktik auf den Plätzen 8 und 10 mit WM-Punkten. Lando Norris war außer Reichweite. McLaren-Teamchef Andreas Seidl erklärte: „Der C5-Reifen in diesem Jahr war stabiler als der Hypersoft von 2018.“ Norris hielt 20 Runden lang durch, fiel zwar hinter die Gruppe der Medium-Starter, hatte da aber freie Fahrt, so dass er nur warten musste, bis seine Gegner an die Boxen abbiegen würden.
Aus dieser Fraktion zog als erster Stroll in Runde 31 die Reißleine. Gasly folgte eine Runde später, Ricciardo und Giovinazzi drei Runden danach. Ricciardo und Giovinazzi gezwungenermaßen nach einer Kollision. Das legte die weitere Reihenfolge fest. Gaslys früher Stopp zahlte sich aus. Giovinazzi fiel noch hinter Nico Hülkenberg, der nach einem Boxenstopp in der erste Runde durch Feld stürmte. An Gasly kam Hülkenberg nur deshalb nicht vorbei, weil der hinter Norris DRS einsetzen konnte.