Nissan Micra im Test
Ein neuer Auto-Zwerg schickt sich an, Verkaufsriese zu
werden. In dritter Generation steht der Nissan Micra in den
Startlöchern – kugelig, pummelig und eigenwillig.
Wer sagt denn, der Micra sei nur etwas für junge Leute? Des Testers alte Biologie- und Erdkundelehrerin, nicht weit von 90 Lenzen entfernt, fährt unverdrossen den Vorgänger des neuen japanischen Kleinwagens, der es zusammen mit dem Ur-Micra auf 1,3 Millionen verkaufte Exemplare gebracht hat.
Der Neue, dem Nissan-Designer Christoph Reitz in der Formgebung Emotionalität und rationelle Cleverness unterstellt, soll die nächste Verkaufs-Million stemmen, dieses „freundliche Auto, das keinerlei Aggressionen weckt“ (Reitz). In Kooperation mit Partner Renault ruht das fröhliche Gebilde schon auf der künftigen Plattform des Renault Clio, und auch der Diesel, den es in Kürze geben wird, kommt von dort. Der Testwagen hat den zweitstärksten von insgesamt drei Benzinmotoren, einen 1240-Kubikzentimeter-Vierzylinder mit 80 PS. Die Motoren sind es nicht, weswegen man auf den neuen Micra aufmerksam wird. Es ist, wie so oft in jüngster Auto-Zeit, in der sich zumindest einige Designer etwas trauen, die Karosse der Blickfang.
Kaum zu glauben, aber trotzdem wahr, das neue Modell ist nicht größer als der Vorgänger, sondern sogar drei Zentimeter kürzer. Nissan widerlegt damit das zum Standard gewordene Ritual, auch kleine Autos bei Modellwechseln immer länger zu machen, womit sie langsam aus ihrer eigenen Klasse, hier das so genannte A-Segment, herauswachsen. Kürzer also, und doch ist der optische Eindruck im Vergleich mit dem Vorgänger genau umgekehrt. Mehr Breite (plus sechs Zentimeter) und deutlich mehr Höhe (plus elf Zentimeter) ergeben zusammen mit dem unkonventionellen Design eine neue Stattlichkeit. Letztlich bleibt der optische Auftritt Geschmackssache, aber es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass die neuen Linien gefallen werden.
Den sachlichen Nutzen der neuen Karosse kann man ohnehin nicht bestreiten, vor allem nicht im Vergleich mit dem Vorgänger. Nicht weniger als sieben Zentimeter mehr Radstand sorgen für ein beträchtliches Innenraum-Plus, in erster Linie für die Fondpassagiere. Hinzu kommt ganz in diesem Sinn eine Variabilität der Rücksitzbank, die sich – wie es Renault schon mit dem Twingo vormacht – längs verschieben lässt. Das Ladevolumen variiert dank 20 Zentimeter Verstellweg zwischen 237 und 371 Liter. Der Knieraum hinten ist denn auch für ein 3,70-Meter-Auto voll ausreichend, wenn nicht die maximale Ladekapazität gefragt ist. Natürlich lässt sich der Laderaum durch einfaches Klappen der teilbaren Rücksitzlehne noch zusätzlich steigern, doch das können andere auch. Es fehlt nicht an Ablagen, unter dem Beifahrersitz gibt es sogar ein jetzt nicht mehr geheimes Geheimfach, in dem der Micra-Fahrer mühelos eine Linzer Torte oder seine Krügerrand-Sammlung verstauen kann. Die Materialanmutung ist, die Sitzbezüge eingeschlossen, nicht durchweg hochwertig. Manches wirkt billig, auch wenn es, wie das Handschuhfach, von guter Funktionalität ist. Mühelosigkeit in der Bedienung kennzeichnet auch den Rest des Cockpits. In der Instrumentierung vertraut Nissan auf die Unverbesserlichkeit von einfach gestylten Rundinstrumenten, Schalter und Hebel liegen an gewohnten Plätzen. Keine Experimente, lautet hier offensichtlich die Parole, die hat man schließlich schon mit der Form gemacht. Die Karosse selbst macht einen grundsoliden Eindruck und vermittelt ein angenehm sattes Türschließgeräusch. Das Raumgefühl auf den vorderen Sitzen ist ausgezeichnet und zeigt wieder einmal, wie wenig man in dieser Hinsicht in einem modernen Kleinwagen entbehrt. Die Sitze mit ihren unscheinbaren Bezügen entpuppen sich auch auf Fernfahrten als bequem, wozu vor allem ihre große Beinauflage beiträgt. 80 PS im kleinen Auto sollten auch für lange Strecken genügen, selbst wenn sie aus dem bescheidenen Hubraum von nur gut 1,2 Litern stammen. Der kleine Vierventiler mit den beiden oben liegenden, kettengetriebenen Nockenwellen entpuppt sich im Fahrbetrieb denn auch als sehr japanisches Wesen, nämlich eifrig, allzeit bereit, aber auch lautstark.
Zusammen mit dem gut gestuften und exakt schaltbaren Fünfganggetriebe lässt er die kleine, aber gleichwohl knapp über eine Tonne wiegende Kapsel temperamentvoll durch die Gänge eilen, wobei das anschwellende Motorgeräusch subjektiv etwas mehr Speed vorgaukelt. Doch 11,5 Sekunden von null auf 100 km/h sind auch objektiv nicht schlecht, das Durchzugsvermögen ist mit rund 22 Sekunden von 80 auf 120 km/h im großen Gang durchschnittlich. Der langhubig ausgelegte Vierzylinder braucht Drehzahlen, um sein Feuer zu entfachen. Auch auf der Autobahn legt der kleine Micra, dessen Karosse mit einem cw-Wert von 0,33 keineswegs besonders windschlüpfig geriet, noch ordentlich zu. Augen auf, Ohren zu, möchte man nun sagen, denn schon jenseits von 120 km/h macht sich auch das himmlische Kind deutlich bemerkbar. Die Windgeräusche sind hoch und machen wenig Appetit auf Dauererprobung. Akustisch bleibt der Motor dennoch präsent, was sich zusammen mit dem Orgeln des Windes in hohen Phonzahlen niederschlägt. Ein leises Auto ist der neue Micra also nicht, wohl aber eines, das mehr Vergnügen als Verdruss bereitet. Denn neben dem Temperament des quirligen Vierventilers, der sich im Testmittel mit gut sieben Liter pro 100 km zufrieden gibt, zeigen sich auch Federungskomfort und Fahreigenschaften auf hohem Niveau. Nur der Geräuschkomfort ist also das Haar in der Suppe – die Federung offeriert dank geglückter Abstimmung ein befriedigendes Gesamtergebnis. Unangenehme Härten werden von den Passagieren ferngehalten, und überraschend gut fällt auch der Abrollkomfort aus. Hinzu kommt eine gute Handlichkeit, die sich auch durch einen Wendekreis von 9,9 Metern dokumentiert. Gleichzeitig lässt die Auslegung der elektrisch betätigten Servolenkung jegliche Nervosität vermissen. So entsteht der subjektive Eindruck, ein erwachsenes Auto zu bewegen – ein psychologisches Moment, das vergessen lässt, wie klein die Umhüllung in Wahrheit doch ist. Die Fahreigenschaften sind auch ohne ESP, das erst im Herbst lieferbar ist, von höchster Güte. Das Kurvenverhalten wird von nur mäßigem Untersteuern geprägt, Lastwechselreaktionen fehlen völlig. Die Bremsen zeigen sich mit sehr guten Verzögerungswerten ebenfalls in Bestform. Keine Frage, die Japaner machen ihre Hausaufgaben auch jenseits der viel gerühmten Zuverlässigkeit immer besser. Der neue Micra hat das Klassenziel erreicht. Nicht nur in Fleiß und Mitarbeit verdient er eine Zwei.