Rolls-Royce Wraith im Fahrbericht
Der Rolls-Royce Wraith kommt zu uns – er heißt wie in Schottland die Gespenster. Gespenstisch leise ist er tatsächlich und obskur schnell, aber nicht unsichtbar.
Das Erste, was Sie über das kleinere, erschwinglichere Coupé von Rolls-Royce wissen müssen, ist, dass es weder klein noch erschwinglich ist. Klar, der neue Rolls-Royce Wraith aus der schottischen Linie der britischen Geister-Dynastie ist kürzer, leichter und günstiger als ein Phantom, aber wann taugte dieses Empire auf Rädern jemals als Maßstab? Sich daran zu orientieren, wäre etwa so, als beschriebe jemand sein Haus als „nicht so groß wie der Buckingham Palast“.
Rolls-Royce Wraith lässt keinen kalt
Zweitens: In diesem Rolls-Royce Wraith kann man sich nicht verstecken. Jeder nimmt es wahr, auch wenn er scheinbar wegschaut. Die seitlichen Sehschlitze funktionieren von außen als Vergrößerungsglas, um zumindest die vorn Sitzenden genauer unter die Lupe nehmen zu können. Anonymität? Forget about it. Nicht nur wegen der schieren Größe, sondern auch wegen des mächtigen Kühlergrills, der imposanten Fronthaube und der dramatischen Proportionen. Kurz: eine starke Persönlichkeit, die ihresgleichen sucht.
Und deshalb – dritte Erkenntnis – lässt der Rolls-Royce Wraith niemanden kalt. Entweder man hält ihn für pure Verschwendung, für ein Symbol von Macht und Pracht, eine Provokation. Oder man liebt ihn, gerade weil er so mächtig, prächtig und provozierend anders ist. Der kleine Junge im Bus auf der Nachbarspur, der uns beim Stau in der City entdeckt hat, mag ihn jedenfalls, hüpft vor Freude auf dem Schoß seiner Mutter herum und winkt uns euphorisch zu.
Anders als beim unnahbaren Phantom kann man sich sogar vorstellen, mit dem Rolls-Royce Wraith die Kinder vom Fußballtraining abzuholen – nicht gerade in Shorts oder Flipflops, aber mit offenem Hemdkragen und gelockerter Krawatte. Schließlich soll er dem traditionell strengen Dresscode der Marke eine Prise Lässigkeit beimischen, das Fastback mehr Dynamik und Energie signalisieren. Mit der geringeren Länge (minus 13 cm) und Höhe (minus 4 cm) gegenüber der Limousine Ghost hat der Zweitürer allerdings nur die Hemmschwelle und nicht den Anspruch auf ein herrschaftliches Ambiente tiefergelegt.
Rolls-Royce Wraith kostet ab 279.531 Euro
Denn die fehlenden Fondtüren und der etwas beschwerliche Zustieg des Rolls-Royce Wraith nach hinten sind genug des Verzichts. Man betritt den Salon durch riesige, nach vorn öffnende Portale, die auf Knopfdruck automatisch schließen. Selbst auf den beiden Sesseln in der zweiten Reihe herrscht kein Mangel an Platz und Komfort, schon gar nicht an exquisiten Werkstoffen in erlesener Qualität und Verarbeitung. Erstmals können sogar Seitenteile und Mittelkonsole mit offenporigen Holzpaneelen getäfelt werden, und für unbescheidene 11.513 Euro ziehen 1.340 LED-Lichter einen künstlichen Sternenhimmel über den Köpfen auf.
Natürlich sind neben massivsilbernen Monogrammen und goldenen Zierstreifen auch alle Assistenzsysteme des Mutterhauses BMW von Head-up-Display über Nachtsichtgerät bis hin zum adaptiven Tempomaten lieferbar – äußerst hilfreich und diskret integriert zwar, aber beileibe nicht serienmäßig. Für königliche 279.531 Euro ist der Wraith höchstens fürstlich ausgestattet, zumal selbst Nettigkeiten wie Komfortzugang, Massagesitze oder Garagentoröffner extra kosten. So können am Ende schon mal 344.146 Euro wie beim Testwagen auf der Rechnung stehen.
Dynamisch, aber nicht sportlich
Bei der Leistung wird dagegen kein bisschen geknausert, die Ansage „ausreichend“ wäre für den stärksten Serien-Rolls aller Zeiten ziemlich unzureichend. Mit 632 PS und 800 Nm Drehmoment liegt der 6,6-Liter-V12-Biturbo auf Augenhöhe mit Bentley Continental GT Speed und Mercedes S 65 AMG Coupé, wahrt jedoch seinen ganz eigenen Charakter. Denn anders als diese sei der Rolls-Royce Wraith dynamisch, nicht sportlich – was ungefähr so klingt wie „Der Film war lustig, aber nicht amüsant“. Eine offen zur Schau gestellte Sportlichkeit ist ihm jedenfalls völlig fremd: kein noch so kleiner Spoiler, keine gierig aufgerissenen Nüstern, kein drohendes Auspuffgrollen, sondern nur eine geradezu unheimliche Mühelosigkeit, die seine kolossalen Taten unfassbar beiläufig erscheinen lässt.
Erst wenn der Fahrer des Rolls-Royce Wraith zur Attacke bläst, dringt ein leichtes Grummeln in die gespenstige Stille. Blitzschnell und fast unmerklich sortiert sich die achtstufige Wandlerautomatik zwei bis drei Gänge zurück, und eine Anzeige im Cockpit signalisiert statt der üblichen 80 nur noch 30 Prozent Kraftreserve. Drehzahl? Unwichtig, einen Tourenzähler gibt es genauso wenig wie einen Fahrmodusregler oder Schaltwippen am Lenkrad. Wozu auch, denn das überaus diskrete ZF-Getriebe serviert immer die passende Übersetzung, kennt dank GPS-Daten sogar den weiteren Streckenverlauf und richtet seine Schaltstrategie darauf aus.
Ruhe in der Bewegung
Bei akuter Langeweile lässt sich ja via Dreh-Drück-Steller mit Touchpad in den zahlreichen Menüs surfen, von Studio- auf Theatersound wechseln und die geflügelte Lady voraus beleuchten oder versenken. Für raue Pisten kann man den Wagen zudem um ein paar Zentimeter liften, doch ansonsten erledigt die Luftfederung ihren Job völlig autonom und souverän. Obwohl Fahrwerk und Lenkung spürbar straffer als beim Ghost ausgelegt sind, pflegt der Rolls-Royce Wraith ein eher abgehobenes Verhältnis zur Straße. Auf Autobahnen stürmt er wie ein Feldherr voran und unterwirft jegliche Erhebung mit der Wucht seiner 2,4 Tonnen, nur in kurvigem Geläuf wirkt er etwas wankelmütig und unentschlossen.
Dabei ist der Hecktriebler angesichts der royalen Ausmaße und der höchstens nach vorn majestätischen Aussicht vergleichsweise handlich und frei von Tücke, aber nicht von Eigensinn. Nur Rüpel würden versuchen, ihm ihren Willen oder ihre Eskapaden im Grenzbereich aufzuzwingen – und damit wenig Freude haben. Der Rolls-Royce Wraith hat seine eigene Gangart, seine Würde, seine Prinzipien, und die muss man respektieren, ergründen, erfahren. Stunde um Stunde, Tag für Tag und am besten auch bei Nacht.
Dann ahnt man zumindest, was Ruhe in der Bewegung und Kraft ohne erkennbare Anstrengung bedeutet. Das britische Fachblatt „The Autocar“ fand für dieses Ereignis bereits 1906 den Begriff „ waftability“, der zwar in keinem Wörterbuch, aber bei Insidern und Kennern der Marke hoch im Kurs steht. Und das ist jetzt auch das Letzte, was Sie über den Rolls-Royce Wraith wissen müssen.