Auf der Suche nach Lumturi

"Lumturi" ist ein Wort, das wir in Albanien gelernt haben, dazu später. Unsere Reise in eines der ärmsten Länder Europas hat wenig mit typischem Urlaub zu tun. Wir suchen nicht Erholung, sondern wollen ins Land eintauchen und Reichtum im Leben aufspüren, den man nicht kaufen kann.
Unser Vorhaben kommt nicht bei allen in unserem Umkreis gut an. Auf Begeisterung für unser Reiseziel stoßen wir gar nicht. Es ist eher eine Mischung aus Vorwürfen und Entsetzen. Bis heute sind mir diese Reaktionen ein Rätsel und ich frage mich, warum so ein völlig falsches Bild über dieses wundervolle Land herrscht.
Zu sechst machen wir uns in unserem Knaus Boxstar auf den Weg, den wir auf den Namen Constantin getauft haben. Als Fotografin und Filmemacherin ist dieses Projekt für mich eine große Herzensangelegenheit – und ohne Drehbuch oder jegliche Vorstellung, was uns erwarten wird, auch eine große Herausforderung. In unserem Camper Constantin reisen mein Mann Max, unser fünfjähriger Sohn Noah, unsere elfjährige Tochter Isabella, unsere Hunde Shar Pei Kolja und Großpudel Rebecca und ich, Deborah, fast zwei Monate durch Albanien. Eine genaue Route? Haben wir nicht.
Entlang der Küste in Richtung Albanien
Die Jadranska Magistrala ist die einzige Strecke, die wir uns grob feststecken. Sie ist eine der schönsten Straßen der Welt und führt die gesamte Küste Kroatiens und Montenegros entlang, bis kurz vor Albanien. Sie ist aber auch eine der gefährlichsten Straßen der Welt. Bei dem Fahrstil, den wir dort erleben, wundert uns das allerdings nicht.
In Dubrovnik treffen wir Denis. Er ist Taxifahrer und bringt uns in die Altstadt, weil wir auch mit einem Sechs-Meter-Van in Dubrovnik keine Chance haben, einen Parkplatz zu finden, und außerhalb auf einem kleinen Stellplatz bleiben.
Vor unserer Kamera erzählt uns Denis, wie er den Massentourismus erlebt, den Kroatien seit Jahren erfährt. Es stimmt uns nachdenklich, auch wir sind in der Altstadt Teil dieses Massentourismus. Allerdings sichern wir damit auch Arbeitsplätze, denn der Tourismus ist Kroatiens stärkster Wirtschaftszweig und die Menschen dort sind auf Touristen angewiesen. Es ruft uns noch einmal ins Gewissen, dass wir achtsam und rücksichtsvoll sein sollten, egal in welchem Land wir uns befinden.
Kurz darauf erreichen wir Montenegro, allerdings bleiben wir nicht lange. Oft werden wir von Autos im Straßenverkehr so eingeklemmt, dass die gesamte Straße verstopft ist. Auf ausgewiesenen Stellplätzen werden wir weggeschickt, weil wir keine Surfer sind. Wahrscheinlich haben wir das Land auf dem falschen Fuß erwischt. Wir werden Montenegro sicher eine zweite Chance geben, doch jetzt ist es erst einmal Zeit für unser eigentliches Zielland.
Erste Tage in Albanien
An der albanischen Grenze winkt man uns eher durch, als dass man uns kontrolliert, ein mulmiges Gefühl bleibt. In Montenegro hat man uns regelrechte Horrorgeschichten über Albanien erzählt. Im Nachhinein betrachtet, ging es wohl eher darum, den Tourismus im eigenen Land zu halten. Einige Kilometer nach dem Grenzübertritt fahren wir durch die Stadt Shkodra und es herrscht Stille im Van. Selbst die Kinder schweigen.
Wir wissen alle, dass es arme Menschen gibt. Wenn man allerdings das erste Mal in ein armes Land wie Albanien reist, sieht man Bilder, die wir so noch nie vor Augen hatten. Häuser, in denen bei uns niemand wohnen würde, weil sie sichtlich einsturzgefährdet sind, Kinder, die betteln, Menschen, die in Mülltonnen nach Essen suchen, und überhaupt liegt hier überall Müll. Albanien erstickt regelrecht im Müll. Hinzu kommen Straßenhunde, die mit ihren Welpen verzweifelt nach Futter suchen.
Wir müssen uns sammeln, unsere Gedanken sortieren. Nach der ersten Übernachtung entscheiden wir, genauer hinzuschauen. Wir sind davon überzeugt, hier mehr zu finden, und genau das geschieht bereits am nächsten Tag.
Beim Schlendern durch die Straßen von Shkodra winkt uns auf der anderen Straßenseite ein junger Mann zu und bittet uns, hier etwas zu trinken. Wir denken, dass er sicher den Laden hier unterstützen möchte, zögern dennoch nicht und nehmen den Vorschlag sehr gerne an. Als der Mann jedoch aufsteht, unsere Getränke bezahlt und sich verabschiedet, hat Albanien uns gepackt. Und genau das ist Albanien. Nicht dass jemand deine Getränke bezahlt, sondern die Tatsache, dass, obwohl diese Menschen weniger besitzen als du, es ihnen wichtiger ist, mit dir Zeit zu verbringen, als ein paar albanische Lek.
Respekt und Herzlichkeit hat hier einen viel höheren Stellenwert als Geld. Die Menschen in Albanien schenken dir ohne Hintergedanken ihre Freundlichkeit und Zeit, haben immer ein Lächeln für dich auf den Lippen und bieten dir kompromisslos ihre Freundschaft an. Sie wissen offenbar, dass dies so viel mehr wert ist als Geld, und wir müssen erst einmal lernen, unsere gewohnten Eigenschaften abzulegen. Dass für all jenes, was man uns gibt, Geld nicht das richtige Zahlungsmittel ist.
Entlang der Flüsse ins Landesinnere
Wir fahren etwas ins Landesinnere in Richtung Ulza. Die Straßen in Albanien erweisen sich als Herausforderung und wir sind doch sehr froh, dass unser Van nur sechs Meter lang ist. Die eine oder andere Straße hätten wir mit einem längeren Fahrzeug überhaupt nicht passieren können.
Türkisblaue Flüsse ziehen sich durchs Land. Wir versuchen die Schönheit, die sich uns zeigt, filmisch festzuhalten. Ein Einheimischer sieht uns dabei und lädt uns ein, auf seinem Grundstück zu übernachten. Während Camper in vielen Ländern auf Campingplätze geschickt werden und in der freien Natur nicht gerne gesehen sind, fühlen wir uns in Albanien wirklich überall herzlich willkommen und werden regelrecht freudig erwartet.
Der Ort, an den uns dieser Albaner einlädt, überwältigt uns. Eine Schlucht mit hohen Felsen, zwischen denen ein reißender Fluss sich erstreckt, und wir stehen direkt inmitten dieser Kulisse. Er zeigt uns eine Badestelle und erklärt uns, dass wir auch sehr gerne angeln können. Das bleibt in unserem Fall wegen fehlender Angelkenntnisse leider erfolglos. In Albanien allerdings ist Angeln völlig unproblematisch und überall möglich. Man benötigt keinen Schein und auch keine Lizenz. Einheimische geben sehr gerne Tipps und freuen sich sehr, wenn man den ein oder anderen Angelhaken für sie übrig hat.
Roadtrip an die Küste Albaniens
Es zieht uns weiter an die Küste. Hier merken wir erneut, dass ein kleines Fahrzeug deutlich im Vorteil sein kann. Die Straße, die wir bis zum Strand passieren, ähnelt eher einem Feldweg mit tiefen Schlaglöchern. Wir brauchen eine Stunde für eine Strecke von zehn Kilometern. Dass wir in Albanien anders planen müssen, wird uns schnell bewusst. Die Straßenverhältnisse lassen es nicht zu, dass wir wirklich schnell unterwegs sein können.
Belohnt werden wir mit einem atemberaubenden Strand, an dem wir im befahrbaren festen Sand, direkt am Meer stehen können. Die Kinder lieben das Wasser, dessen Temperatur an eine Badewanne erinnert. Wir bleiben einige Tage – bis unser Frischwassertank leer ist.
Wasser ist in Albanien ein Problem
Das Wasser aus den Leitungen hat nicht ansatzweise die Qualität, die wir von zu Hause gewohnt sind. Selbst die Albaner raten uns davon ab, dieses Wasser zu trinken. Daher greifen wir für den Wassertank ausschließlich auf gekauftes stilles Trinkwasser zurück.
Im Landesinneren trifft man jedoch auf Bergquellen, deren Wasser eine hervorragende Qualität hat. Man findet sie an zahlreichen Orten im Land und erkennt sie häufig daran, dass Einheimische mit Kanistern dort Wasser holen, denn besonders in den heißen Sommermonaten ist das Wasser aus der Leitung sowieso nur begrenzt verfügbar.
Wir wollen uns den Osum Canyon anschauen, er gehört zweifellos zu den schönsten Schluchten Europas, doch bevor wir ihn erreichen, erleben wir wieder einen dieser zahlreichen Momente, die Albanien zu etwas ganz Besonderem machen.
Man zeigt uns eine Gemüsesorte, die wir noch nicht kannten, die Okraschote. Wir wollen einige kaufen, doch dürfen nicht bezahlen. Im Hintergrund steht unser Wohnmobil, das gerade wenige Wochen alt ist.
Der Mensch, der uns diese Tüte voll frisch geernteter Schoten in die Hand drückt, die er innerhalb von Stunden per Hand in der heißen Sonne gepflückt hat, weiß genau, dass wir ihm die Okraschoten problemlos bezahlen könnten. Er verweigert die Annahme von Geld dennoch strikt. Diskussionen sind zwecklos, vielmehr verletzt es Albaner, ihre Geste der Herzlichkeit zu ignorieren. Sie schenken aus dem tiefsten Herzen, ohne dafür irgendeine Gegenleistung zu erwarten. Über ein kaltes deutsches Bier aus unserem Kühlschrank hat er sich aber dennoch sehr gefreut.
Ad-Blue und Fahrstil
Die Ad-Blue-Anzeige unseres Campers meldet sich. Im Gegensatz zu Diesel, Benzin und Gas gestaltet sich die Beschaffung in Albanien eher schwierig. Über dieses Problem hatten wir uns zuvor schon informiert und bereits in Bosnien zwei Kanister Ad-Blue gekauft. Allerdings ohne Einfüllstutzen und so zweckentfremden wir einen kaum geeigneten Küchentrichter, denn einen Einfüllstutzen haben wir selbst in einem Autozubehörgeschäft in Albanien nicht bekommen.
Nach vier Wochen haben wir uns dann auch endlich an den Fahrstil der Albaner gewöhnt. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es hier keinerlei Regeln gibt. Aus einem zweispurigen Kreisverkehr wird schnell ein vierspuriger gemacht. Natürlich mehr schlecht als recht – während auch Fußgänger die Straße überqueren. Das stört hier allerdings niemanden.
Die Straßen Albaniens teilt man sich nicht nur mit Autos. Hinter jeder Kurve könnte eine Kuh gerade entspannt im Schatten schlafen. Sehr oft sehen wir hier ebenfalls Eselskutschen. Diese rollen mit entsprechender Geschwindigkeit sogar auf den Schnellstraßen. Trotz der doch recht spektakulären Verhältnisse auf den Straßen passieren beachtlich wenig Unfälle.
Lumturi: Wahrer Reichtum
Nach fast zwei Monaten Aufenthalt in diesem so besonderen Land müssen wir zurück nach Deutschland, im Gepäck einen Film und wohl wissend, Aufnahmen gemacht zu haben, mit denen wir andere Menschen berühren wollen. Auf unserem YouTube-Kanal "Constantins Diary” ist unser Film inzwischen zu sehen: Lumturi – Auf der Suche nach dem wahren Reichtum. "Lumturi” heißt "Glück” auf Albanisch und genau das haben wir in diesem so herzlichen Land gefunden.