„Wir sind ab 2022 profitabel“
Mercedes-Teamchef Toto Wolff nimmt im Gespräch mit auto motor und sport Stellung zur aktuellen Überlegenheit der Silberpfeile, den Auswirkungen des Sparkurses, den Herausforderungen des Budgetdeckels und dem Streit um Racing Point.
Ist die Konkurrenz so schlecht, oder ist Mercedes so gut?
Wolff: Ich weiß nicht, wo die anderen ihre Schwachstellen sehen oder ihre Stärken. Ich kann nur uns beurteilen. Wir sind letztes Jahr auf der Motorenseite durch Ferrari so herausgefordert worden, dass wir neue Wege gegangen sind, um Leistung zu finden. Sehr stark war da auch die Kooperation zwischen Brixworth und Brackley. Die beiden Abteilungen haben wirklich an einem Strang gezogen und Aero gegen Power klar gewichtet. Andererseits ist bei dem aktuellen Auto das Verhältnis von Abtrieb zu Luftwiderstand richtig ausbalanciert. Wir haben in fast allen Ecken richtig viel Grip, sehen aber noch immer kleinere Schwachstellen in langsamen Kurven.
Wo wäre der Motor heute, wenn Ferrari mit seiner Leistungsexplosion Mercedes im letzten Jahr nicht so gefordert hätte?
Wolff: Wir haben bei einzelnen Rennen letztes Jahr teilweise mehr als 50 Kilowatt Leistungsunterschied (68 PS) gesehen. Für uns ergab sich daraus die Aufgabe: Wie viel Leistung können wir tatsächlich mobilisieren? Und du kannst sie nur im Verbrennungsmotor finden. Alle anderen Bereiche sind ja beschränkt. Da haben wir jeden Stein umgedreht, den wir finden konnten. Und zwar nicht ein paar PS, sondern mehr.
Wie weit ist Mercedes dem Rest der Welt nach GPS-Messungen voraus?
Wolff: Um eine belastbare Aussage zu treffen, müssten wir die Luftwiderstandswerte genau analysieren. So weit sind wir noch nicht. Die anderen fahren teilweise mit großen Flügeln durch die Gegend, damit in den Kurven was geht. Ich glaube, dass wir vom Motor her einen kleinen Vorteil haben. So ein bis eineinhalb Zehntel, wenn wir vom gleichen Luftwiderstand ausgehen würden. Das sind sicher keine Welten. Dazu gibt es das bestehende Reglement schon zu lange und die Motoren sind zu ausgereift.
Mercedes hat auch das beste Chassis. Ist das Konzept der Konkurrenz, die ihre Autos stark anstellt, am Ende angelangt?
Wolff: Wir haben es nie gemacht. Interessant ist, dass der Racing Point dieses Konzept lange verfolgt hat, was aber mit unserem Getriebe nie sehr gut funktioniert hat. Jetzt haben sie auf unser Konzept umgestellt, mit einer niedrigeren Fahrzeughöhe hinten, und das Auto ist viel besser. Ich vermag es nicht zu sagen, ob dieses Konzept richtig ist. Wir jedenfalls, haben es all die Jahre weiterverfolgt.
Die Entwicklungsmöglichkeiten sind wegen der Sparmaßnahmen bis Ende 2021 eingeschränkt. Können Sie mit Ihrem Vorsprung entspannt auf die nächsten eineinhalb Jahre blicken?
Wolff: Komfortabel fühle ich mich nie. Wir sind jetzt drei Rennen von 16, 17 oder 18 gefahren. Wenn wir ausfallen und Verstappen gewinnt, steht es in der Fahrer-WM nahezu ausgeglichen. Das nächste Jahr darf man nicht leicht nehmen. Es wird für alle einen neuen Unterboden geben. Der wird so anders sein, dass sich die Strömung komplett verändert, und damit geht auch die Entwicklung in eine andere Richtung. Beim Motor sind wir sicher auf einem guten Stand, vor allem weil man dieses Jahr nur noch an der Zuverlässigkeit arbeiten darf. Aber zusammenrechnen können wir erst, wenn es vorbei ist.
Versetzen Sie sich in die Lage Ihrer Verfolger. Würden Sie sich da bei deutlich weniger Windkanalzeit nicht Sorgen machen, ob der Rückstand noch einholbar ist?
Wolff: Vergessen Sie nicht, dass Sie als Fünfter in der Meisterschaft deutlich häufiger in den Windkanal dürfen als die Sieger. Das wird sich dann vor allem für 2022 richtig stark auswirken.
Ferrari jammert, sie seien bei den Sparmaßnahmen im Sinne des Sports die größten Kompromisse eingegangen. Wie groß waren die Kompromisse bei Mercedes?
Wolff: Ferrari, Red Bull und wir sind die gleichen Kompromisse eingegangen, weil wir die gleiche Größe haben. Ich würde aber nicht sagen, dass Ferrari auf der kommerziellen Seite Kompromisse eingegangen ist.
Kommen wir zu den Sparmaßnahmen: Wie viel Geld spart man sich beim Chassis gegenüber früher ein?
Wolff: In der Entwicklung die Hälfte. Alles andere sind sehr komplizierte Schlüssel, weil du auch deine Prozesse verändern musst. Das ist sicher das schwierigste in unserer Organisation.
Und beim Motor?
Wolff: Beim Motor haben wir den natürlichen Budgetdruck, den jeder Automobilhersteller im Moment hat. Da müssen wir ebenfalls in eine Situation kommen, dass wir weniger Geld ausgeben.
Das hört sich aber nach viel Sparpotenzial an. Weniger Ausbaustufen, weniger Prüfstandsstunden?
Wolff: Ja, aber das sind vielleicht ein paar Millionen von einem doch relativ hohen Gesamtbudget.
Im nächsten Jahr müssen alle Teams mit 145 Millionen Dollar wirtschaften. Es gibt aber Ausnahmen. Jean Todt behauptet, dass dadurch bei den Top-Teams noch einmal die gleiche Summe draufkommt. Stimmt das?
Wolff: Das stimmt nicht. Wenn du die Gehälter der Fahrer, der drei teuersten Angestellten und des Marketings mit einrechnest, bist du bei teuren Fahrern vielleicht dann insgesamt bei 230 bis 240 Millionen.
Fährt das Mercedes-Rennteam bei einer normalen Saison dann 2021 profitabel?
Wolff: Im nächsten Jahr vielleicht noch nicht. Das liegt an den Restrukturierungsmaßnahmen, die Geld kosten. Ab 2022 schon.
Wie bereitet man sich auf die Budgetdeckelung vor? Bauen Sie Monat für Monat ab, oder gibt es am 1. Januar 2021 einen harten Schnitt?
Wolff: Wir bereiten uns schon seit geraumer Zeit darauf vor. Das bedarf einer völligen Restrukturierung der Abläufe im Unternehmen und der Organisation. De facto ist schon seit Monaten eine große Arbeitsgruppe aktiv, um mögliche Strategien und Lösungen zu diskutieren.
Üben Sie schon, ob man einen Job, für den man vorher zehn Leute hatte, auch mit acht machen kann?
Wolff: Das muss man. Wir müssen jetzt auch damit beginnen, jedes Teil am Auto zu bewerten. Bei uns war das ja nie so, dass man das Auto bis auf die kleinste Schraube in Bezug auf die Kosten hinunterrechnen konnte. Da gab es die großen Kostenblöcke, die in einem Budget vereinbart wurden. Jede Abteilung hat nach diesen Budgets gearbeitet. In Zukunft müssen wir eine völlig transparente, gläserne Zuordnung haben, was unsere zwei Prototypen, die wir auf die Rennstrecke stellen, auch tatsächlich gekostet haben.
Haben Sie schon eine Vorstellung, wie die optimale Mitarbeiterzahl aussehen wird?
Wolff: Das kann man pauschal nicht sagen. Das hängt ganz davon ab, wie du heute aufgestellt bist und wie du deine Prozesse verändern kannst. In unserer Entwicklungsabteilung gibt es ja auch noch andere Aufgaben als die Formel 1.
Tun die Abrüstungsschritte über jeweils fünf Millionen Dollar in den beiden Folgejahren noch weh, oder ist das dann nur noch eine Fingerübung?
Wolff: Die tun insofern weh, weil wir keine Inflationsanpassung haben. Wir sprechen deswegen nicht von fünf, sondern von acht Millionen. Das sind noch einmal zwei ordentliche Schritte, weil du den ständigen Druck auf deiner Organisation und deinen Prozessen hast.
Daimler gibt weitere Sparmaßnahmen bekannt. Wie hilfreich ist dieses Sparpaket der Formel 1 in der Argumentation gegenüber Leuten im Konzern, die der Formel 1 nicht so viel abgewinnen können?
Wolff: Wir haben eine große Verantwortung als Team, weil wir uns dem Daimler-Konzern nicht entziehen können und auch nicht wollen. Wir sind eine Abteilung innerhalb von Daimler. Wenn alle den Gürtel enger schnallen müssen, dann werden wir das auch tun. Bei uns haben wir das durch das Reglement mit der Budgetdeckelung gemacht. Ab 2022 werden wir auf der Teamseite kostenneutral wirtschaften können. Die Milliarde Marketing-Gegenwert kommt also hundert Prozent zurück. Auf der Motorenseite werden wir noch Reglements schreiben, damit auch das günstiger wird.
Warum ist Ihre Zukunft bei Mercedes noch offen. Bei sechs Titeln und vielleicht bald sieben sollte es eigentlich keine Fragezeichen geben. Der FC Liverpool stellt ja auch nicht Jürgen Klopp in Frage.
Wolff: Ich glaube nicht, dass der FC Liverpool Jürgen Klopp in Frage stellt oder der Daimler Toto Wolff. Wir haben eine relativ komplexe Struktur und komplexe Verträge mit Anteilen von mir am Team. Das ist mehr als nur ein Anstellungsvertrag wie bei Klopp, ohne das jetzt geringschätzen zu wollen. Dazu kommt noch die Frage, was mit den Anteilen von Niki Lauda passiert. Diese Gespräche dauern schon lange, sind aber auf einem guten Weg. Eines ist sicher: Bis spätestens Ende des Jahres müssen wir eine Lösung haben.
Bei den Fahrerverträgen heißt es immer: Keine Eile. Man könnte aber auch sagen: Wozu warten?
Wolff: Wir sind mit unserer Fahrerpaarung sehr glücklich. Beide sind schnell. An einem schlechten Tag von Lewis ist Valtteri da. Und an einem guten Tag ist Lewis unschlagbar. Die Dynamik und die Stimmung zwischen den beiden stimmt, was sehr wichtig ist. Wenn du zwei Egomanen im Team hast, wird das mit der Team-Meisterschaft schwierig. Beide respektieren das Team und den Einfluss, den sie auf die Stimmung im Team haben. Deshalb sind die beiden für uns die beste Lösung.
Sie haben noch andere Fahrer in ihrem Stall. Ist das ein Luxus oder ein Fluch, wenn man zu viele davon hat?
Wolff: Bei George Russell war klar, dass er noch ein Jahr bei Williams hat. Esteban ist bis nächstes Jahr Renault-Fahrer. Es ist also eine mittelfristige Frage, wie wir uns mit den beiden aufstellen.
Ist George Russell verloren, wenn Sie 2022 keinen Platz für ihn finden?
Wolff: Er ist nicht verloren. Auch wenn bei uns keine Tür aufgeht, ist er immer noch ein Mercedes-Fahrer. Da habe ich keine Sorge, dass wir keinen Platz für ihn finden würden. Das ist aber noch weit weg.
Wie sehen Sie den Fall Renault gegen Racing Point? Wie viel Kopie sollte in der Formel 1 erlaubt sein?
Wolff: Das ist geniales "Reverse engineering", würde ich sagen. Man muss hier eine gute Balance finden. Einerseits muss man es den kleinen Teams ermöglichen, konkurrenzfähig zu sein. Das tun wir, indem wir Racing Point einen Windkanal und Hardware wie den Motor, das Getriebe und die Aufhängungen zur Verfügung stellen. Andererseits müssen wir respektieren, dass nicht alle großen Teams eine solche Kooperation haben oder haben können. Für uns ist das ein echtes Geschäftsmodell. Wir verdienen gutes Geld mit Racing Point. So ist das eine Win-Win-Situation. Es gibt aber auch Teams wie Renault oder McLaren, die so eine Allianz nicht oder noch nicht haben. Dadurch entsteht bei ihnen der Eindruck, dass sie ins Hintertreffen geraten könnten, weil Racing Point diesen unkonventionellen und völlig uneitlen Weg gegangen ist, ein anderes Auto zu kopieren. Statt dass die Ingenieure selber das Rad neu erfinden wollten, haben sie einen Mercedes nachgebaut. Das ist das Problem vieler kleiner Teams, auch derer, die den Zugang zu größeren Teams haben. Sie wollen alles immer selbst machen.
Würden Sie Alpha Tauri mit Red Bull das gleiche zubilligen wie das, was Racing Point mit Mercedes gemacht hat?
Wolff: Absolut. Auch Haas und Ferrari. Doch dazu müssen beide Organisationen von der Denkweise her so aufgestellt sein, dass sie das auch zulassen. Meistens scheitert das auf der einen oder anderen Seite, weil sie nicht dazu bereit ist.
Ferrari will bald das Concorde Abkommen unterschreiben. Auch McLaren und Red Bull stehen offenbar kurz davor. Sie haben Ferrari dafür kritisiert, das öffentlich kundzutun. Ist Mercedes noch weit weg?
Wolff: Wir sind nicht weit weg, aber wir kommentieren nicht jeden Verhandlungsschritt. Da sind wieder einige mit einer eigenen Agenda unterwegs und versuchen Pluspunkte beim Formel-1-Management zu sammeln oder uns in eine Ecke zu stellen. Wenn ich Ferrari wäre, dann wäre ich auch glücklich mit dem Vertrag und hätte schon lange unterschrieben. Man muss das sehr differenziert betrachten.
Sehen Sie noch größere Hindernisse?
Wolff: Nein. Wir haben ja auch schon gesagt, dass wir das wollen. Es gibt aber noch einige Diskussionspunkte, die uns wichtig sind. Am Ende des Tages wird man Kompromisse schließen müssen.