Warum fährt sich ein Mercedes wie ein Mercedes?

Jeder Hersteller legt fest, wie sich seine Modelle fahren sollen. Mercedes spricht vom Fahrcharakter und lässt sich in die Karten schauen, wie dieser geprägt wird.
So muss sich Major Tom gefühlt haben. Na ja, wobei hier drin ist es wohl doch luxuriöser als in der Raumkapsel des einst von Peter Schilling besungenen Astronauten. Doch die Tür zu dieser Kapsel hat sich elektrisch geschlossen, der Zugang zum Kontrollraum über die kleine Gangway – unerreichbar. Na gut. Dann mal Sitz einstellen, Spiegel ebenfalls, obwohl ich die nicht benötigen werde. In dieser Welt existieren heute keine weiteren Verkehrsteilnehmer, nur ich und eine Mercedes C-Klasse, die ein GLE Coupé vorgaukeln will. Gaspedal treten, auf 130 km/h beschleunigen. Im Türfach liegen Spucktüten, na super; der 22 Tonnen schwere Simulator setzt sich in Bewegung. Weit kommt er nicht, sein Hexapod bewegt sich auf zwei Luftkissen-gelagerten Schienen, ein Luftkissen, in das sich mit viel Geschick ein Haar stecken ließe, höher ist es nicht. Querkräfte bis zu einem g lassen sich hier simulieren, was einerseits beeindruckt, andererseits verdeutlicht: Ohne reale Erprobung geht es nicht, schließlich parken im Mercedes.Modellprogramm Modelle, die höhere Querkräfte aufbauen können. Und bei den Simulator-Fahrten muss vorab entschieden werden, ob Längs- oder Querdynamik wichtiger ist, beides zusammen lässt sich nicht realitätsnah abbilden.
Die Abstimmung ist ein Dreiklang
"Natürlich nimmt die Simulation immer weiter zu, doch entscheiden ist für uns der Dreiklang aus Simulation, Prüfstand und Straße", sagt Markus Riedel, verantwortlich für den Bereich Ride and Handling bei Mercedes. Es gilt den so genannten Fahrcharakter eines neues Modells zu realisieren, denn jeder Mercedes soll ich erster Linie Sicherheit, Souveränität und Fahrkomfort vermitteln, Sportlichkeit und Präzision spielen ein eher untergeordnete Rolle. "Bei den für uns wichtigen Kriterien wollen wir Spitzenreiter sein, bei den anderen unter den Top drei", grenzt Riedel ein. Die gewünschte Ausprägung der einzelnen Eigenschaften wird zu Beginn des Entwicklungsprozesses in rund 90 physikalische Kennwerte übersetzt, daraus wiederum die Bauteilspezifikationen berechnet.
Im Simulator herrscht nun Seitenwind, in Böen von bis zu 60 km/h. Während der Fahrt spielt das Team im Kontrollraum zwei unterschiedliche Setups ein, einmal das des fertigen Fahrzeugs und einmal das eines Fahrzeugs mit ungünstigerer Aerodynamik. Die unterschiede fallen nicht riesig aus, aber spürbar. Während einmal praktisch keine Lenkkorrekturen notwendig sind, muss später etwas mehr am Lenkrad gearbeitet werden. Nicht viel, aber eben so viel, dass sich das Fahrerlebnis nicht mehr souverän anfühlt. Lenkrad geradeaus, neues Setup, jetzt sitzen außer mir noch drei weitere Personen im Auto, virtuell natürlich. Tempo 180, Ausweichmanöver, vielleicht nötig, weil ein Lkw unvermittelt zum Überholen auf die mittlere Spur drängt. Hier: Pylonengassen, virtuell. Das Manöver gelingt problemlos, sicher, zielgenaues Einlenken, Auslenken, das Heck bleibt stabil. Jetzt bekommt das GLE Coupé nicht optimal applizierte Reifen. Selbe Übung, und da kommt Leben in die SUV-Bude, wenngleich auch jetzt keine wilden Aktionen durchgeführt werden müssen. Es geht um Nuancen, frühestmögliche Feinabstimmung.
Das Ziel: Bestmögliche Verarbeitung aller Fahrbahnzustände
Zu Beginn der Entwicklung liegen Daten aus der Konzeptionierung des neuen Produktes vor, also Maße wie Radstand, Karosserielänge und -breite. Dazu kommen Daten aus bestehenden Komponenten vom Basis- oder Vorgängermodell sowie neuer Bauteile aus der Vorentwicklung. Damit werden die Rechner der Simulatoren gefüttert. Die des Handling-Simulators aber auch die des Ride-Simulators einen Stock tiefer. Hier geht es um den Federungskomfort, weniger spektakulär im Aufbau, nicht minder spektakulär im Erlebnis. Zwei Sitzkonsolen auf einer Platte, die ebenfalls auf einem Hexapod steckt, das seinerseits auf einem luftkissengelagerten Betonblock montiert ist – 260 Tonnen schwer. "Wir fahren hier Frequenzen von bis zu 50 Hz. Wäre das starr montiert, würden nicht nur in diesem Gebäude die Wände wackeln", erklärt Andre Lippeck von der Ride-Simulation. Hier lassen sich unterschiedliche Fahrwerksabstimmung auf ihren Federungskomfort hin optimieren. Zuviel Dämpfung oder zu wenig? Höhere oder niedrigere Federraten? Das Ziel: Bestmögliche Verarbeitung aller Arten von Bodenunebenheiten bei möglichst magenfreundlichen Karosseriebewegungen. Momentan fahre ich über die Einfahrbahn hier in Sindelfingen, gleich über das Prüfgelände in Immendingen, ohne Lenkrad und Pedalerie, nicht soll ablenken, da hier auch die Daten von Wettbewerbsmodellen im Probandenversuch abgeglichen werden.
Und jetzt? Raus auf die echte Straße? Noch nicht. "Aufgrund der Komplexität moderner Fahrzeuge, der Vielzahl an Komponenten gibt es bei uns noch die so genannte Hardware-in-the-loop-Methode", sagt Riedel. Hier werden echte Komponenten wie ESP-Steuergeräte oder elektromechanische Lenkungen in virtuelle Prototypen eingebunden. Sieht unspektakulär aus, weil: Bauteile, Kabel, Leitungen, Rechnerschränke. So lassen sich alle Fahrwerkssteuergeräte in alle Fahrzeugplattformen einbinden – und in einer Nacht bis zu 30 Millionen Rechenoperationen durchführen, die dann daraufhin ausgewertet werden, ob die Zielvorgaben erreicht werden. Jetzt gerade fährt der Rechner ein Ausweichmanöver, auf dem Monitor werden die Lenkbewegungen sowie die Bremsdrücke an den einzelnen Rädern, die das Steuergerät nebenan im Schrank befehligt. Ähnliches bei der Lenkung: Der Elektromotor wirkt bei einem definierten Manöver auf die Lenkstange, wobei die Kraft und der Kraftaufbau überprüft werden. "Das HiL-Verfahren hilft immens. Müssten wir das alles in realen Fahrzeugen abbilden, wüssten wir nicht, wohin damit", erklärt Riedel.
Am Ende zählt der Eindruck auf einer echten Straße
Die realen Fahrzeuge warten dennoch draußen, drei GLE 400d Coupé mit Stahlfederung, Luftfederung und Aktiv-Fahrwerk. Auf der Einfahrbahn können die SUV im direkten Vergleich auf unterschiedlichen Schlechtwegstrecken bewegt werden. Das Spektrum der Anregungen reicht von grobem Unfug ländlichen Straßenbaus bis zu so genanntem Mikro-Stukkern auf Autobahnen. Während schon das Basis-Fahrwerk einen bemerkenswerten Federungskomfort trotz 20-Zoll-Rädern bietet, feilt die Luftfederung Airmatic die Amplituden nochmals glatter, auf allen drei Belägen. Und das aufwändige Aktiv-Fahrwerk? Reduziert die Karosseriebewegungen, doch der Effekt bleibt überschaubar, vor allem deshalb, weil die Kamera, die Bodenwellen detektiert und sich so das Fahrwerk darauf vorbereiten kann, bei Regen und Dunkelheit nicht funktioniert. Und ja, es regnet. Nicht zu wenig. In den Kurven macht sich die Technik bemerkbar, natürlich, doch die sind auf der Einfahrbahn von untergeordneter Bedeutung. Dafür muss auf Handling-Kursen gefahren werden, beispielsweise auf dem neuen Erprobungsgelände des Konzerns in Immendingen.
Zwischendurch wird auch immer wieder ein Messfahrzeug auf die Strecke geschickt, um die Daten der realen Komponenten abzunehmen. Die umfangreiche Sensorik steckt sogar auf der Sitzfläche des Fahrersitzes. In jedem Fall existiert für den Federungskomfort aber nur ein Maßstab: Eine kleine Landstraße in der Nähe von Heimsheim, westlich von Stuttgart. "Die war richtig schlecht, dort sind nicht nur wir gerne gefahren", sagt Riedel. Man traf dort wohl auch gerne die Kollegen von Porsche. "Als wir erfahren haben, dass die Straße neu asphaltiert werden soll, haben wir sie für zwei Wochen sperren lassen und ein Abdruck von der Oberfläche anfertigen lassen", erzählt der Ingenieur. Jetzt existiert die miese Fahrbahnoberfläche weiter, auf der Einfahrbahn in Sindelfingen, auf dem Entwicklungsgelände in Immendingen – und bei Porsche. "Es war gar nicht so leicht, eine Firma zu finden, die eine richtig schlechte Straße bauen kann", erzählt Markus Riedel – und es hört sich beinahe so an, als ob das noch schwieriger gewesen wäre, als einen Simulator zu bauen.